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5. Wenn mein Gehirn oder genauer mein Bewußtsein den Verschleiß meines Körpers durch kluge Ratschläge mindert, entspricht das Bewußtsein doch einem Verschleißminderungsmechanismus, der mein Alter hinauszuzögern imstande ist.


© Helmut Eisendle

Den Geist auf Trab bringen, ist eine Parole des Alters, denkt der Mann, erhebt sich mühsam und geht den Weg entlang in Richtung zum phallusartigen Felsen ein paar hundert Meter entfernt. Alter definiert sich, zumindest von der Warte der Jugend her als Verschleiß.
Abnutzung, Verbrauch.
Ist doch so !
Oder ?
Ein Gehirn verschleißt sich nicht, sondern wiederholt eingefahrene Bahnen.
Es denkt, richtig oder falsch, es nimmt wahr, richtig oder falsch, es will oder es will nicht, es fühlt oder fühlt nicht, es erinnert sich oder es vergißt, es gibt sich Träumen hin oder nicht, es liebt oder es haßt, richtig oder falsch.
Und es sagt dem Körper, was er tun soll.
Mach ein bißchen langsamer, Alter.
Der Mann bleibt stehen und blickt nach oben.
Verdammter Berg.
Mit der Natur scheint jedermann vertraut zu sein. Wenn man die Arten der Natur auf ihre unantastbare Wirklichkeit hin betrachtet und sich selbst nichts vormacht, dann zeigt sich: die Natur ist vorhanden wie der Haß, die Verzweiflung, die Langeweile, die Moral, die Unmoral wie alle Facetten unseres menschlichen Daseins.
Alles, was mein Denken bestimmt, hat dieses Wesenhafte; auch das Wesenhafte der Natur ist eine meiner Eigenschaften. Was wäre die Welt ohne Gebärden der Natur ? Aber auch das vielbeachtete Dramatische der Natur kommt an der wesenhaften Definition nicht vorbei. Das Steinerne ist das Bauwerk, das Hölzerne die Schnitzkunst, das Seiende die Natur ?
Natürlich ist auch das Natürliche, ein Berg, dieser verdammte Berg über das Wesenhafte hinaus etwas anderes als die Natur selbst. Dieses Andere macht sie aus, die Natur. Es ist eine Allegorie, eine immer wiederkehrende Allegorie Natur als Akt, ein Symbol.
Allegorie und Symbol geben die Vorstellung, in deren Bahn sich seit immer schon das Lebens bewegt hat. Wenn wir jede Aktion aus der Natur abstrahieren, finden wir unter Umständen die wirkliche Natur. Also muß man zunächst das in Betrachtung ziehen, was Gefühle macht, um zu wissen, was die Natur ist. Nur dann läßt sich sagen, ob der Akt: auf einen Berg zu steigen, das ist, was er behauptet und die Natur zu etwas macht, an dem noch etwas anderes haftet; erst dann kann ich entscheiden, ob die Natur im Grunde etwas anderes ist als ein einfacher Akt des Gehens mit dem definierten Ziel, dem Gipfel. Erst wenn ich keuche und schwitze. Hier reagiert ein kleines Stück Natur, ich, gegen die größere, den Berg, innerhalb der ganz großen, der Natur.
Schnaufend geht der Mann weiter.
Eugene Reshanov hat ein Verschleißminderungsgerät namens Fluxatron entwickelt.
Wenn mein Gehirn oder genauer mein Bewußtsein den Verschleiß meines Körpers durch kluge Ratschläge mindert, entspricht das Bewußtsein doch einem Verschleißminderungsmechanismus, der mein Alter hinauszuzögern imstande ist ? Ich werde durch Klugheit langsamer alt oder älter. Und doch ist es der Natur egal, was ich denke. Ob ich klug oder dumm bin, Hauptsache ich denke noch. Gedankenlos in den Tod ist eine vertretbare Vorstellung vom Ableben.
Was immer das Fluxatron - so hat es geheißen - auch zustande gebracht hat, also die Messung und Beseitigung dessen, was man unter Verschleiß versteht: den Leistungsabfall, die Materialermüdung, das Alter, den Verbrauch, das, was man Amortisation oder die Tilgung des Verschleißes nennen könnte, also die Gerade-Noch-Brauchbarkeit, die etwas besitzt, nun, was immer dieses Fluxatron zustandebringt, mir hilft nur mein Gehirn, die kleine Regelmaschine.
Das Gehirn entspricht doch vielleicht einer Maschine, die ihre eigenen Reaktionen auf einem display, das eben unser Bewußtsein ist, erkennbar macht. Die Leuchtstärke der abgebildeten und erkannten Muster, koordiniert mit der gespeicherten Erfahrung, ist dann wohl oder übel das, was wir Intelligenz nennen; diese aber ist wiederum von den Erfordernissen der Umwelt abhängig. Vielleicht träume ich davon, ein utopisches Gerät zu entwickeln, das mir jene Mittel zuweist, die das Alter verhindern oder das Altern aufhalten oder gar die geforderte Funktionstüchtigkeit, das Jungbleiben erhalten ?

Der Jungbrunnen ? Will ich ihn ? Die Liebe. Was war sie, was ist sie ? Ein Beziehungsspiel ? Etwas von der Natur, das noch über geblieben ist ? Ein Jungbrunnen ?
Etwas zwischen Mann und Frau ? Ich habe mit Frauen gelebt. Und sie geliebt. Ich hatte nur eine Chance, den dichter Schleier der Natur der Frauen zu lüften, wenn ich die trügerische Vermutung bekräftigt habe, sie gäbe es so wie mich selber: sie, die Frau, halte sich trotz aller Spielarten an Regeln. Im Detail treibt aber die Frau ihr Wesen anderswohin. Ursachen mögen Wirkungen und Wirkungen Ursachen sein. Und doch muß ich der Frau als Partnerin, Gebärerin und Geliebte Freiheit und Autonomie zugestehen. Es wäre naiv, davon auszugehen, die Frau käme den Männern bei ihren Erklärungsversuchen auch nur einen Schritt weit entgegen.
Der Frau blindlings Glauben zu schenken, wäre aber auch alles andere als vernünftig.
Berücksichtige ich das, so werde ich ihre Echtheit nicht im weiblichen Körper erblicken, sondern begreifen, daß sie eines sicherlich bleibt: mein männliches Dilemma. Die natürliche Evolution ist in Gestalt des Mannes, eines Zufallsproduktes, keineswegs an ihr Ende gelangt. Es ist natürlich widersinnig, davon abzusehen, daß ich eine zweite Natur, eine soziale Welt und die Zivilisation mit allen Vor- und Nachteilen geschaffen habe. Ohne Zweifel sind die kulturell organisierten Männergesellschaften und auch mein männliche Bewußtsein darüber eine Möglichkeit, sich von der Frau abzusetzen und abseits von ihr ein Eigenleben zu führen.
Der Begriff Frau ist vielfältig. Das Ahnenbild der Frau, das Schattenbild der Frau, das Traumbild der Frau, die Erscheinung der Frau, das Gleichnis der Frau, die Vorstellung der Frau, die Idee der Frau, das Kunst- oder Wunderwerk der Frau.
Die Frage aber, was das Wesen Frau tatsächlich sei, wird von mir nicht gestellt und nicht beantwortet.
Weiblichkeit und Kompliziertheit sind verwandte Begriffe; sie betreffen beide das gleiche Gebiet: meine Beziehung zu einer Frau, meiner Mutter, einer Geliebten, zur Natur des weiblichen Körpers. Kompliziert ist auch die Wirkung des Ganzen, was der Mann, das Kind darstellt, in seiner sozialen, intellektuellen, an der Natur der Frau beteiligten Situation.
Oft wurde weiblich als unbewußte Vorstellung definiert; aber viel mehr als ein einfaches Bild muß ich ein erworbenes imaginäres Schema darin sehen, ein statisches Klischee, nach dem die Frau den Mann oder der Mann die Frau erfaßt. So etwas wie Liebe. Oder tatsächlich: die Liebe.
Das Wesen Frau läßt sich eher durch Gefühle und Verhaltensweisen darstellen als durch rationale Aussagen, die Biologie oder ihre Rolle in unserer Gesellschaft betreffend. Füge ich noch hinzu, daß ihr Wesen nicht als eine Widerspiegelung des Wirklichen, auch nicht als das mehr oder weniger entstellte Reale verstanden werden kann, so kann das Weibliche mit einer grausamen, bedeutungslosen oder lieblichen Vorstellung übereinstimmen.
Unter Umständen gibt es in meinem Verhältnis zu den Frauen so etwas wie eine vorbewußte Verdinglichung meines Denkens.
Durch die psychische Abhängigkeit wird von mir eine Denkweise über den Begriff Frau gestellt. Andere Möglichkeiten treten kaum in Erscheinung. Zumindest wenn Macht und Gier keine Rolle mehr spielen. Wir sind doch alle von Frauen geboren worden. Daher handle ich gegenüber der Frau nicht mehr von mir aus, sondern es sind, zumindest was mein Unterbewußtsein betrifft, Mythen über die Geburt, den ersten Kontakt, die ersten körperlichen Liebesbezeugungen, die mein Denken und auch Handeln fremd bestimmt haben.
Ich werde zum Sklaven meiner eigenen Assoziationen, wenn ich mit bildlich übertragenen Ausdrücken den Begriff Frau ersetze, um ihn zu begreifen. Daß ich dabei nichts anderes beweise als mich selbst und nicht die Natur der Frau als solche, ist mein männliches Dilemma.
In der Regel reagiere ich innerhalb der Sprache mit einfachen Assoziationen, die sich dann projektiv in mein Bewußtsein verlagern und diesem neue Betrachtungsweisen ermöglichen. Das Bewußtsein selbst ist, so gesehen, männlich in dem Sinne, daß vage Erinnerungen über etwas, beispielsweise die Mutter, die Geliebte, den weibliche Körper, mit meinem Denken eine Neuheit zu bilden imstande sind. Dieses Vorgang setzt mich in den Stand, jede Vorstellung des Begriffes Frau zu erzeugen, der sich meiner Introspektion darbietet, doch aber nichts anderes als ein unverläßliches Substrat meines männlichen Bewußtseins bleibt.
Mit einem um sich greifenden Erkennen der Eigenheiten, individueller Unterschiede und Denkweisen führt das Denken über die Frau stets nur zu eine neuen Gedankenflut über das Selbst und das Ich innerhalb einer mich betreffenden Vorstellung des anderen Geschlechts. Sie ist nicht vorbei. Die Liebe. Trotz meines alten Körpers.
Denken, Bewußtsein oder der Geist fällt nicht dem üblichen Verschleiß anheim, es ist der Körper, der verschleißt. Das Denken steigert seine Tüchtigkeit mit dem Gebrauch. Das Gehirn, so betrachtet ist also nicht ein Werkzeug oder ist also doch nicht einer Maschine oder einem Gerät vergleichbar, sondern ist eben nur sein Gebrauch; ja, das Denken ist der Gebrauch seiner selbst, das mit ihm, dem Gebrauch seine Leistungsfähigkeit erhöht. Es mindert seinen eigenen Verschleiß durch das, was es tut: denken.
Natürlich müssen auch Gehirnzellen einem Verschleiß unterliegen, doch aber scheint die Reserve unendlich zu sein, wo doch behauptet wird, daß wir nur einen Bruchteil von dem denken, was wir denken könnten.Ich habe viel mehr geliebt, als ich zuzugeben wage.
Ist doch so ?
Und wenn sich tatsächlich der Prozentteil von grauen Zellen verschleißen würde, den ich zum Denken brauche, bleibt noch immer genug übrig. Auch für die Liebe.
Die Verschleißerscheinungen des Gehirns ergeben sich nicht aus einem Übermaß an Aktivitäten, sondern aus dem Gegenteil: der Untätigkeit.
Da haben wir´s !
Ich kann mich nicht zu Tode denken. Auch nicht zu Tode lieben.
Oder gibt es einen Gehirninfarkt ?
Wenn es schon einen Herzinfarkt gibt ?
Aus Liebe ?
Nein. Aus Verkalkung.
Alzheimer. Alois.


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