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6. Als ich das Lokal verlasse kommt ein kleines Mädchen herein. Es hat rote Lackschuhe an. Ich bleibe stehen und lächle.


© Helmut Eisendle

Erinnerung.
Der Mann bleibt stehen und blickt zum Horizont.
Ich bin am Meer, am Mittelmeer oder an der Adria. Weder in einem Segelboot, noch einem Motorboot, noch schwimme oder bade ich.
Nein, ich gehe auf einen Berg. Allerdings, oft gehe in Gedanken am Meer, irgendwo in einem Ort, in Contovello, einem kleinen Dorf im Karst, wo Carlo seine Gostilnja sociale führt. Ich trinke ein paar Gläser mit ihm, wandere hinauf zur Kirche und blicke auf den Golf von Triest. Oder ich erinnere mich an Cinque Terre, an Barcelona oder ans Ebro-delta, an Peniscola, das Seeräubernest, wo der Gegenpapst Pedro di Luna gelebt hat. Alles hat mit meiner Geschichte zu tun. Mit den letzten dreissig Jahren.
Beim Leben in Städten habe ich Details beachtet und sie lieben gelernt. Nichts ist einzuwenden gegen den Strand, die Sonne, den Mondschein der Plakate, die uns vom Süden erzählen. Und doch ist man am falschen Ende, wenn man der Werbung glaubt. Man bewegt sich weg von der Stadt, vom Süden, bevor man die Orte und Gegenden auch nur zu verstehen versucht hat. Es ist etwas anderes, wenn man dort gelebt hat. In Triest, in Friaul, am Land, irgendwo am Meer. Es ist daher verständlich, daß ich bestimmte Dinge bevorzuge. Einen Panizza oder einen Hut von Dermotta, daß ich gerne Spaghetti esse oder auch eine Pizza, daß ich lieber den Illy- oder Hausbrandtkaffee habe und nicht Eduscho, daß ich eine Vorliebe für Damen mit einem Florentinerhut oder Mädchen mit roten Lackschuhen habe.
Ein Mädchen mit weißen Strümpfen und roten Lackschuhen ?
Sicherlich muß ich gestehen, daß diese Eigenheit nicht zufällig entstanden ist. Borsalino, Spaghetti, einen Pinot, ein Gelato con lemone, sicher, aber ein kleines Mädchen mit roten Lackschuhen ? Ja, es hat doch mit einer Frau zu tun. Einer Freundin.
Ich war zwölf Jahre alt als ich das erste Mal in Triest war, erzählte sie mir. Das erste Mal am Meer. Mit meiner Tante. Es war wunderbar, bis...
Was bis ?
Bis die Sache mit dem Pinguin geschehen ist.
Was, fragte ich.
Im Aquarium von Triest. Du kennst es doch ?
Ja, sicher. Daneben der Fischmarkt.
Ja. Ich war ein kleines Mädchen mit roten Zöpfen, einem blauen Rock, weißen Strümpfen und roten Lackschuhen.
Und ?
Im hinteren Teil des Aquariums gab es einen Pinguin. Erinnerst Du dich ?
Sicher.
Er war klein und blickte traurig, so daß ich auf ihn zuging und mit ihm redete.
Und ?
Als er meine Stimme hörte, blickte her und begann auf mich zuzuwackeln. Tatsächlich, er kam auf mich zu.
Und, fragte ich wieder.
Ja, er kam auf mich zu, ganz nah und stieg mit seinen patschigen Flossen auf meine roten Lackschuhe.
Was ?
Ja. Als ich schrie, drehte er sich um, wackelte zurück in sein Eck, schlüpfte in seinen Käfig und war verschwunden.
Sei froh, daß es ein Pinguin war und kein Nilpferd.
Ach. Sehr witzig. Und ich lief zu meiner Tante und weinte.
Entschuldigung, das mit dem Nilpferd war nicht besonders geistreich.
Ja, ja, die Männer, sagte die Freundin und runzelte die Stirne.
Ich kenne diesen Pinguin, sagte ich schnell, wirklich, ich kenne ihn. Tatsächlich es ist der alte Pinguin, der mich immer wieder ins Aquarium geführt hat. Sie nannten ihn Giannino.
Lügst du jetzt.
Nein. Ich lüge nie.
Und ?
Ja, ich erinnere mich. Der Wärter sagte, er sei dreissig Jahre alt. Leicht gebeugt stand er in seinem Käfig mit offener Türe, bewegungslos.
Und ?
Wohin sollte er auch gehen ? Seine Welt war eine andere. Das Meer, sein Meer bestand aus kleinen Kästen, Vitrinen, in denen Fische schwammen. Früher einmal hatte er sie gefressen. Heute kam das Fressen woanders her. Regelmäßig, umsonst. Im ovalen Bassin, das vor ihm lag, sah er den Hai. Und hatte keine Angst. Die Menschen kamen zu ihm, machten dumme Witze und winkten, wenn sie ihn sahen.
Du lügst, sagte die Frau, die früher ein kleines Mädchen gewesen war.
Ich lüge nie. Warum bist Du davon gelaufen ?
Weil er auf meine roten Lackschuhe gestiegen ist. Verstehst Du das wirklich nicht ?
Er war neugierig, nicht mehr.
Woher willst du das wissen ?
Ich weiß es, ich war hundert Mal im Aquarium und habe ihn gesehen.
Ich war nur einmal dort und da ist er mir auf die Füße gestiegen.
Und jetzt magst du Pinguine nicht mehr ?
Doch, aber wenn ich ein Mädchen mit roten Lackschuhen im Zoo sehe, werde ich nervös.
Das hat mir die Freundin erzählt. Deswegen hat ein Mädchen mit den roten Lackschuhen für mich eine besondere Bedeutung.
Und ?
Ich erinnere mich.
Ich stand unter der morgendlichen Dusche, das Wasser rauschte und ich spürte das Meer und ich nahm mir vor heute Spaghetti mit Paradeismark zu kochen und ?
Ich dachte an ein Mädchen mit roten Schuhen und an den Pinguin.
In der Tat ist alles anderes. Eigentlich. Verquickt mit der Erinnerung an meine Zeit in Triest oder mit der Zuneigung zu einer Frau.
Jahrelang wohnte ich in einer großen Stadt, in der Nähe eines Marktes. Auch dort gab es Fische. Aber keine Pinguine. Und nur selten ein Mädchen mit roten Lackschuhen. Oder erwachsene Frauen, die früher ein Mädchen mit roten Lackschuhen waren.
Nun gut.
Ich vollzog die tägliche Morgentoilette und ging in die Küche, füllte in die Espressomaschine einen Kaffee Illy und stellte sie auf den Herd.
Ein Espresso wird mir gut tun, dachte ich, die Nacht war lang.
Ich kleidete mich an, nahm Mantel und Hut, es war ein Dermotta, blickte aus dem Fenster. Der Himmel war blau.
Ich verließ die Wohnung, auf der Straße stieg ich in meinen alten Fiat, und fuhr in die Stadt, um einige Besorgungen zu machen. Ich betrat ein Geschäft - es war eine italienische Delikatessenhandlung mit dem Namen Piccini - und kaufte ein.
Spaghetti, Barilla, Pesto genovese, Gorgonzola und eine Flasche Soave.
Es war November, kaltes Wetter und ich dachte an den Frühling, an den Sommer oder an den Süden, an Contovello, ans Aquarium an der Riva und an die Freundin mit der ich gerne dorthin gefahren wäre.
Kurz bevor ich in mein Auto stieg, kehrte ich in einer kleinen italienischen Bar ein und gönne mir einen Cappucino und einen Carpene Malvolti.
Adreano, der Kellner, lacht und sagt:
Che molto freddo, si ?
Ja, antwortete ich, es ist November, Novembre.
Senz`altro, novembre, signore, che freddo, molto freddo.
Si.
Il conto, ti prego, Adreano.
Ich trank.
Der Ober gibt mir die Rechnung .
Ciao, Adreano, a prossima volta.
Ciao, mein Herr, ciao, arrividerci !
Als ich das Lokal verließ kommt ein kleines Mädchen herein. Es hat rote Lackschuhe an. Ich blieb stehen und lächelte.
Wie heißt Du, frage ich.
Andrea, antwortete das Mädchen.
Woher bist Du ?
Aus Triest.
Tatsächlich.
Si.
Kennst Du das Aquarium an der Riva ?
Sicher.
Den kleinen Pinguin ?
Den gibt es nicht mehr, mein Herr.
Ach, das tut mir leid. Was ist mit ihm geschehen ?
Er ist gestorben.
Wann ?
Vor einem Jahr, glaube ich.
Er war nett, nicht ?
Ja, sehr. Wir haben ihn alle gerne gehabt. Giannino.
So hat er geheißen ?
Ja.
Warum ?
Er war so nett.
So kamen wir ins plaudern und ich erzählte dem Mädchen die Geschichte von den roten Lackschuhen.
Wann war das, fragte sie.
Vor zehn Jahren.
Vielleicht war es meine Schwester.
Hatte deine Schwester rote Lackschuhe ?
Ja, sagte sie und zeigte auf ihre Schuhe, das sind sie.
Das ist unglaublich, sagte ich.
Was ?
Daß deine Schwester rote Lackschuhe getragen hat.
Warum ?
Weil ich eine Frau kenne, die als Mädchen auch rote Lackschuhe gehabt hat.
Und ?
Ja, ist das nicht seltsam ?
Nein. Viele Mädchen haben rote Lackschuhe.
Ja, eigentlich schon.
Ich verabschiedete mich und ging gedankenverloren aus dem Geschäft.
Da ist doch etwas, das man nicht mehr mit Zufall erklären kann ?
Warum habe ich das Mädchen gefragt ? Ja, weil sie rote Lackschuhe hat.
Und sie hat Giannino gekannt. Den kleinen Pinguin. Das ist kein Zufall mehr. Was ist es sonst ?
Seltsam.
Es ist vielleicht eine der kleinen Geschichten, die ich erfinde, um etwas Besonderes zu erhalten, was ich nie besessen habe.
Nein, es hat mit dem Meer zu tun oder zumindest mit einem Land, das am Meer liegt, eben Italien. Nein, es hat mit einer Frau zu tun, mit meiner Freundin. Und einem Mädchen mit roten Lackschuhen. Oder auch nicht. Unter Umständen mit ganz anderen Dingen. Ja, mit was ? Es ist da etwas. Etwas, das in mir ein Gefühl wachruft, das keine Beschreibung zuläßt und nichts über jenes sagt, was wirklich war.
Es hat mit Dingen, Gefühlen und Menschen zu tun.
Es hat mit Spaghetti, mit Illy-Kaffee, mit dem Borsalino, mit Carpene Malvolti, mit, ja, mit was hat es zu tun ?
Was ?
Das Ganze.
Es hat mit einer Frau zu tun. Mit meiner Freundin. Die einmal ein Mädchen mit roten Lackschuhen gewesen war.
Was ist los ?
Ich erinnere mich. Nicht mehr.
Die Erinnerung an ein Mädchen mit roten Lackschuhen ?
Davon gibt es viele. Sehr viele.
Ich werde meine Freundin bitten, mit mir nach Italien zu fahren. Nach Contovello, um aufs Meer zu schauen. Und dann ? Fahren wir ins Aquarium zu Giannino, den es nicht mehr gibt.
Und das Mädchen mit den roten Lackschuhen ?
Gibt es immer wieder.
Vielleicht steht sie hinter dem Felsen und wartet auf mich ?
Der Mann geht weiter.


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