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7. Ist tatsächlich die Drohung oder das Vorhandensein des Wortes Angst, das, was Angst macht ?


© Helmut Eisendle

Er blickt zurück.
In eine von den Menschen verlassene Landschaft.
Er spürte die Hitze bis in die letzte Pore.
Und wenn ich den Berg nie mehr verließe ? Ich bliebe hängen, an einem Felsen.
Mehrere Monate würden vergehen, lange Nächte und viele Vollmonde. Ich würde mich daran gewöhnen, mich gewöhnen an diesen Felsen, die Brust des Berges.
Ich würde den Berg lieben lernen, das Land, welches ich von diesem Felsen aus beobachten könnte, ich würde mich gewöhnen an die Dunkelheit der Nacht, an den gefallenen Schnee, und den Vollmond, an die Hitze des Tages.
Die Kälte, die vor dem Frühling da gewesen wäre, würde mich in ein Eiskristall verwandeln. Tage, Wochen, Monate - dann würde der Wind aus dem Süden kommen. Ich aber würde eine der Schneeflocken sein, die sich zu lösen begänne, die sich in Tropfen verwandelte, den Felsen hinunter rutschte, hunderte von Metern, und umarmt werden würde von Tausenden anderen Tropfen. Mit einer Vorstellung von Natur von gestern, vielleicht von vorgestern, würde ich fließen, fließen in die Bäche, Flüsse, ins Meer. Ich würde die Steine im Bach umarmen, von einem zum anderen springen. Ich würde die Blumen sehen, die neben dem Bach blühten, die Fische berühren, und meinen Weg fortsetzten, in den Wasserfall stürzen. Im See unter dem Wasserfall würde ich schwimmen, durch den Mund eines Fisches, und wieder heraus durch die Kiemen. Vielleicht würde ich den Fluß durch das Tal erreichen, bis ich ihn erreichen könnte, bliebe mir noch ein bißchen Zeit. Ich würde im Meer landen, irgendwann.
Gefühle, denkt der Mann und lacht.
Mich interessiert an der Natur das, wozu ich keine direkte Erklärung habe; die Empfindungen, Vorstellungen und Wahrnehmungen, welche irgend etwas von Natur in mir auslösen. Das Tatsächliche interessiert mich nur als Akt meiner Deutung. Ich beachte dies genau, weil in mir allein durch Behauptungen und Vermutungen, die ich nicht beweisen kann, eine Vorstellung von Natur erwacht. Der von mir erlebte Zusammenhang zwischen meinem Innenleben, meinem Denken und meinen Empfindungen, die irgend etwas natürliches in mir auslösen, gestatten mir den Zugang. Ich kann mich lediglich in sie hineinversetzen oder wie jetzt, einen Berg besteigen und damit in mir eine Gefühlswelt erzeugen, in der ich mich bewegen kann. Ich bilde mir tatsächlich ein, die Natur habe etwas mit mir zu tun. Oder ich träume davon, mit ihr eins zu sein.
Er geht den steinigen Lauf des Weges aufwärts. Auf den Felsen zu. Das Geräusch seiner Schritte, das Knirschen im Kies und auf den Steinen, welches seine Schuhe erzeugen, erinnern ihn an das Gemurmel des Wassers, das er eben gehört hat.
Jetzt windet sich der Weg durch kegelige, kleine Hügel voller Felsen nach oben.
Ich bin in einer versteinerten Landschaft.
Der Wind pfeift, die Krähen kreischen.
Ich könnte mir vorstellen, daß die zerborstenen Felsen Schutt von verfallenen Häusern sind. Oder hat Wind, der Regen und Sonne die Felsen zerkleinert ?
Es ist eine Erosionslandschaft; vorne der steil aufragende Felsen, hinter mir der Wasserfall. Am Weg Steine, Moos, daneben Disteln und Gestrüpp, Kiefern und Latschen.
Wieder taucht der Schwarm von Krähen aus den Hügeln auf und steuert direkt auf ihn zu.
Der Mann duckt sich und hält die Hände vors Gesicht.
Verdammt, schreit er, könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen ?
Daß sie, die Angst ist, wie sie ist, ist ihr Wesen. Der Ursprung ihrer Herkunft ist ihr Charakter. Die Angst entspringt der Sehnsucht, das zu vermeiden, was gerade einzutreten droht. Entsteht sie durch das auftretende Gefühl selbst ? Letzteres ist aber bar jeder Erklärung. Denn daß das Gefühl Angst erscheinen sein läßt, heißt: die Angst selbst erst läßt sie hervorgehen. Das Drohende und die Angst sind je in sich und in ihrem Wechselbezug durch ein Drittes, welches das erste ist, durch jenes nämlich, von woher die Angst ihren Namen hat. Ist tatsächlich die Drohung oder das Vorhandensein des Wortes Angst, das, was Angst macht ? Zumindest bei uns Menschen scheint es so. So notwendig Angst aus ihrem auslösenden Ursprung entsteht, also das Drohende der Ursprung der Angst ist, so gewiß sind die Tatsachen in einer noch anderen Weise der Ursprung für die Gefühle, für das Reagieren zumal. Tapferkeit. Heldentum. Feigheit. Treue. Wann und wie und warum gibt es diese emotionalen Gebärden ? Die Angst, das ist doch nur ein Wort mit fünf Buchstaben, dem nichts Wirkliches entspricht. Meistens. Verfluchte Krähen. Angst ist eine Sammeldarstellung, in der wir etwas unterbringen, was vielleicht etwas wird: die Angst und das Drohende. Selbst wenn das Wort Angst mehr bezeichnen sollte als eine Sammeldarstellung, so könnte das mit dem Wort gemeinte nur vorhanden sein auf Grund der Wirklichkeit des Drohenden und des tatsächlichen Geschehens. Oder liegt die Sache umgekehrt ? Gibt es das Angsthaben nur, insofern Voraussagen und Gefühle als ein Ursprung tatsächlich vorhanden sind ?
Die Angstgefühle sind im Vermeidenwollen vorhanden.
Was die Angst ist, enträtselt sich aus der Tatsache des Vorstellens. Wie auch das Alter selbst. Was also Angst bedeutet, können wir nur aus unserem und seinem Wesen selbst erfahren. Man bemerkt leicht, daß man sich so im Kreise bewegt. Der Verstand fordert, daß dieser Zirkel, weil er ein Verstoß gegen die Logik ist, vermieden werde. Man glaubt, was Angst ist, läßt sich durch eine vergleichende Betrachtung der bestehenden Gegebenheiten und Reaktionen und Angstverhältnisse und Absichten nehmen. Aber wie soll man dessen gewiß sein, indem wir für eine derartige Betrachtung in der Tat in mir Geschichten und Horrorszenen erzeugen, wenn wir nicht einmal genau wissen, was die Gefühle der Angst als solche sind ? So wenig wie durch eine Sammlung von Geschichten läßt sich das Wesen der Angst durch eine Ableitung von Vorstellungen gewinnen. Denn auch diese Ableitung hat schon im voraus jene Bestimmungen im Blick, die zureichen müßten, um uns das, was wir im voraus für Angst halten, als eine solche darzubieten. Das Sammeln von Angst aus Vorstellungen und das Ableiten der Angst aus charakterlichen Zügen ist hier in gleicher Weise unmöglich und wie sie ausgeübt wird, ebenso eine Selbsttäuschung, die Verführung, gerade sie auszulösen.
Um das Wesen der Angst zu finden, das tatsächlich das Vermeiden bestimmt, frage ich mich vorerst, was Angst wäre, gäbe es die ängstlichen Akte, die Verhältnisse zwischen den Menschen, Menschen und Dingen, Menschen und Zuständen und Erinnerungen und Angstträume nicht als Kolportage in unseren Köpfen ?
Mit dem Akt der Angst scheint jedermann vertraut zu sein. Wenn man diese Arten der Angst auf ihre unantastbare Wirklichkeit hin betrachtet und sich selbst nichts vormacht, dann zeigt sich: die Angst ist vorhanden wie der Haß, die Verzweiflung, die Langeweile, die Moral, die Unmoral wie alle Facetten unseres menschlichen Daseins.
Alles, was das zwischenmenschliche Dasein bestimmt, hat dieses Wesenhafte; auch das Wesenhafte der Angst ist eine Eigenschaft. Was wäre die Welt ohne emotionale und ängstliche Gebärden ? Ein Akt, unter Umständen, wie wir ihn bei den Tieren annehmen, ein Mechanismus, ein Instinkt ? Aber auch das vielbeachtete Gefühlvolle oder Dramatische der Angst kommt an der wesenhaften Definition nicht vorbei.
Wenn wir jedes Handeln aus Angst machen, finden wir unter Umständen die wirkliche Angst. Oder muß man zunächst das in Betrachtung ziehen, was Gefühle macht, um zu wissen, was die Angst ist ? Nur dann läßt sich sagen, ob die Vermeidung das ist, was sie behauptet und die Angst zu etwas macht, an dem noch etwas anderes haftet; erst dann läßt sich entscheiden, ob die Angst im Grunde etwas anderes ist als ein einfacher Akt des Vermeidens mit einem definierten Ziel. Angst und Alter. Angst und Natur. Ja. Die Natur der Angst im Alter.
Der Mann steht auf, klatscht in die Hände und schreit.
Verdammte Vögel, Verschwindet, sonst knall´ ich euch ab.


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