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8. Der Welt-Traum und der Weltraum, welcher Träumer große und kleine - böse und gute - wichtige und nebensächliche beherbergt, dieser Welttraum hat seine eigene Struktur.


© Helmut Eisendle

Die Phantasie ist die positive Bedingung für die Verwirklichung des Daseins. Durch die Gefahr der unverbindlichen Isolierung ist die Phantasie als absolutes Bewußtsein zweideutig; sie kann die tiefste Offenbarung und eine zunichtemachende Täuschung sein.
Mein Leben ist eine Vielzahl von Jahren. Auch ist es lange, sehr lange her, daß ich vom Jungen zum erwachsenen Mann und vom Mann zum Alten geworden bin.
Vielleicht war es am Anfang der Welt so ruhig, frage er sich und blickt zum Horizont. In Wirklichkeit habe ich keine Erinnerungen. An nichts. Wenn ich welche habe, sind sie erfunden, kleine Lügengeschichten, ein Rausch des Bewußtseins, das kurz vor seinem Ende steht. Ich zweifle an der Plausibilität. Es scheint alles so plausibel und ist doch nur eine Quelle von unmöglichen Irrtümern und Lügen.
Jedermann liebt das Vergessen. Wenn ihm etwas Unangenehmes begegnet, sagt er: Ach, wenn ich es doch vergessen könnte. Aber das Vergessen ist vielleicht auch eine Kunst, die gelernt werden will. Das Vergessenkönnen hängt davon ab, wie man sich erinnert. Wie man sich aber erinnert, hängt davon ab, wie man die Wirklichkeit erlebt. Jeder Augenblick darf nur so viel Bedeutung haben, daß man ihn sofort vergessen kann; andererseits muß jeder Augenblick aber soviel Bedeutung haben, daß man sich an ihn erinnert.
Ich weiß, vielleicht sind dies alles nur Gedanken. Aber ist es nicht egal, ob ich phantasiere oder ob alles wirklich war ?
Geschehen ist geschehen, ob im Kopf oder wirklich. Was geschieht denn nicht alles in meinem Kopf ? Ist das wirklich ? Es ist tatsächlich wirklich. Vor allem durch die Sprache, durch Worte und Wörter entsteht die Wollust, eine unstillbare Neugierde.
Es ist, könnte ich meinen, die unstillbare Neugierde, die Wollust der Worte und Wörter fast etwas erotisches. So wie die Sexualität ein Spiel mit den Körperteilen und Gefühlen ist, ist das Denken ein Spielen mit Bedeutungen, ein Spiel mit Worten. Auf irgendeiner Inseln der südafrikanischen Küste nennt man den Penis sein Wort und die Vagina ihre Antwort. Das samenträchtige Wort. Der Sämann sät mit dem Wort. Am Anfang war das Wort, am Anfang war die Tat.
Es ist ein Wort- und ein Welt-Traum-Theater, das sich über mir aufbläht. Der Welt-Traum und der Weltraum, welcher Träumer große und kleine - böse und gute - wichtige und nebensächliche beherbergt, dieser Welttraum hat seine eigene Struktur, eine Struktur, die bezogen auf viele Träume meinem Wesen entspricht. Ein Kopf- und Welt-Theater.
Wir spielen alle Theater. Die Persönlichkeit ist eine Maske. Die Welt ist eine Bühne, das Selbst eine Schöpfung des Theaters. Das Selbst als dargestellte Rolle ist also kein organisches Ding, das einen spezifischen Ort hat und dessen Schicksal es ist, geboren zu werden, zu machen und zu sterben; es ist eine dramatische Wirkung, die sich aus einer dargestellten Szene entfaltet.
Mir bleibt dabei die Genugtuung, daß ich träume und daß die Menschen nicht wissen, ob sie ebensolche Traumgeschöpfe in Träumen sind wie vielleicht ich ?
Solange ich denken und träumen kann, stolpere ich am Rande eines Horizonts entlang, immer in Gefahr, auf die andere Seite zu kippen.
Was ist auf der anderen Seite ?
Ich könnte glauben, es gibt keine andere Seite. Aber diesseitig bin ich mir auch unsicher, ob es einen Ort, einen Fleck, einen Punkt gibt, wo ich hingehöre und auf dem ich stehen kann. Es sei denn, ich setze voraus, einer ist da, der mich hält ?
Ich stolpere, komme abhanden, verschwinde aus der Welt, aus den Köpfen, aus der Wirklichkeit. Und tauche irgendwo wieder auf.
Und doch. Im Schlaf bin ich da. Ich träume etwas, mich, ich werde von mir geträumt, ich werde träumen, daß ich geträumt werde und träume. In Worten und Geschichten, Anekdoten und Bildern. Es ist eine eigene Wirklichkeit.
Menschliche Wesen leben weder nur in der objektiven Welt noch alleine in der, die man gewöhnlich Gesellschaft nennt. Sie leben auch weitgehend in der Welt der besonderen Sprache und Träume, die für sie zum Medium des Ausdrucks geworden ist.
Es ist durchaus eine Illusion zu meinen, man passe sich der Wirklichkeit im wesentlichen ohne Hilfe der Träume an und die Sprache sei lediglich ein zufälliges Mittel für die Lösung spezifischer Probleme der Mitteilung. Tatsächlich wird die "Reale Welt" sehr weitgehend unbewußt auf den Sprechgewohnheiten der Gruppe erbaut. Wir sehen und hören und machen überhaupt unsere Erfahrungen in Abhängigkeit von den Sprechgewohnheiten unserer Gemeinschaft, die uns gewisse Interpretationen vorweg nahelegen.
Einen Traum habe ich oft gehabt, sehr oft.
Ich befinde mich in einer großen Halle, einer Fabrikshalle mit. einem Himmel aus Neonröhren, die weißes Licht von sich geben und alles grell, mehr als taghell erleuchten. Den ganzen Raum durchziehen drei Fließbänder, dazwischen unzählige Maschinen: Drehbänke, Stanzgeräte, Sägen, Schleifmaschinen. Vor allen Geräten und den Fließbändern stehen Menschen und arbeiten, machen Bewegungen, tun - wie es scheint - ihre Pflicht.
Auf den Fließbändern liegen Teile von mir; Köpfe, Arme, Oberarme, Unterarme, Hände, Füße, Beine, mein Leib.
Die Menschen fügen mich zusammen; einer den Kopf auf den Körper, einer die Unterarme in die Oberarme, einer fügt die Hände dran, einer die Oberschenkel an die Unterschenkel, einer die Füße, wieder einer alles an den Leib.
Ich jage, gleichsam mühelos - wie auf einem Luftkissen - durch den Riesenraum, vorbei an den Arbeitern, den Maschinen, den Fließbändern, ich durchfahre mehrere Türen, die sich öffnen, wenn ich mich ihnen nähere, in eine weitere Halle; an den Fließbändern stehen plötzlich Frauen. Ich kenne sie. Freundinnen, Geliebte.
Emsig fügen auch sie meine Teile zusammen.
Ich jage weiter, durch eine Schwingtüre und wieder begegne ich einer ähnlichen Szene.
An den Fließbändern und Maschinen stehen nun Kinder; Mädchen und Jungen. Abwechselnd. Auch sie kenne ich.
Ich versuche stehenzubleiben und mit ihnen zu reden. Doch es geht nicht. Ich jage und jage weiter, immer weiter, durch Türen, durch neue Hallen, immer das gleiche Bild, einmal Männer, dann Frauen, dann Kinder vor den Fließbändern mit meinen Körperteilen.
Ich versuche ihnen etwas zuzurufen: Hört doch auf ! Das hat doch keinen Sinn ! Hier, hier bin ich doch ! Warum soll es mich denn noch einmal geben ? Einmal genügt doch ! Ein Leben lang ! Und dann ist es vorüber ! Versteht ihr mich ?
Doch keiner hört mich. Alle arbeiten weiter und ich schwebe davon.
So weit mein Traum, eine Phantasie.
Die Phantasie hat reale Auswirkungen nicht nur auf die innere, psychische Welt, sondern auch auf die äußere Welt der physischen Entwicklung und meinem physischen Verhalten. Im Gegensatz zu äußeren und körperlichen Realitäten ist die Phantasie ein Produkt der Einbildung, da man sie weder berühren noch sehen, noch handhaben kann; aber dennoch ist sie in meiner Erfahrung real.. Ja, ein Alptraum. Denn wer will sich schon x-mal haben ?
Es gibt die Geschichte eines Mannes, der erst sterben durfte als keiner sich an ihn erinnerte und keiner mehr an ihn dachte.
Obwohl ich mir einbilde alt zu sein, paßt mein erwarteter und möglicher Tod nicht zu mir. Heute, in meinem Alter könnte ich meinen, es sei mein Überdruß an Gefühlen, der sich von meinem Überdruß am Leben nicht mehr unterscheidet.
Ich bin mit dem Leben ungeduldig und hatte wohl immer zu viel Ungeduld, irgendwelche Bindungen einzugehen. Als Mensch benötigt man viel oder ein wenig Geduld für das Leben und für die Liebe.
Kein Mensch liebt irgendjemanden. Man liebt nicht weniger als eine Chimäre, eine Phantasmagorie, die man sich von jemanden macht. Man liebt genaugenommen die Vorstellung von der Liebe. Es mag schon sein, daß man als Mensch sich das Recht nimmt, das als Liebe zu bezeichnen, was zwischen Mann und Frau in üblicher oder unüblicher Weise geschieht.
Man kann einander anschauen, betasten, angehören, miteinander leben. Und man kann das Liebe nennen. Sicher. Oder man kann es miteinander treiben. Das nennt man Sexualität. So etwas wie eine Suche nach Genuß und Befriedigung. Liebe, ja, auch dazu sagt man Liebe.
In allen Lebenslagen war ich stets einer, der nicht dazugepaßt hat. Es war immer etwas Fremdes an mir, trotz aller Sympathien, die man mir entgegenbrachte.
Sicher, allen war ich irgendwie sympathisch, doch es war eine Sympathie ohne besondere Zuneigung, vielleicht eine Sympathie, die man einem guten gegenüber pflegt.
Ich weiß nicht, ob ich unter diesen Dingen leiden oder ob ich alles hinnehmen soll wie ein gütiges, besonderes Schicksal.
Genaugenommen wollte ich nie jemanden gefallen.
Und wenn ich eines Tages - viele Tage bleiben mir ja nicht mehr wenn ich eines Tages lieben sollte, ist auch die Gegenliebe denkbar. Die Menschen haben sich daran gewöhnt mit mir zu leben. Aber lieben ?
Wie ein bösartiges Wesen hat mich das Schicksal verfolgt und zu dem gemacht, was ich eben bin und bleibe ein lebendiges Etwas. Einer von vielen.
Im Grunde habe ich keinen Sinn und kenne auch meinen Wert nicht.
Es gibt nichts, womit man mich vergleichen könnte, um mir Wert zu verleihen. Der einzige Vergleich, der möglich und statthaft ist, ist der mit einem x-beliebigen.
Jede Person ist also viele Personen; eine Menge, die zu einer Person gemacht wird; eine Vereinigung, vereinigt, eine Körperschaft. Eine Körperschaft in einer Person. Die Einheit der Person ist so wirklich oder unwirklich wie die Einheit der Körper. Wir neigen dazu, uns jedes Individuum als isoliert vorzustellen. Dies ist die bequemste Fiktion. Wir können die Person physisch isolieren. Zum Beispiel: im Sprechzimmer eines Psychoanalytikers. Innerhalb von zwei Minuten stellt er fest, daß ich meine Welt mitgebracht habe und daß ich, bevor ich ihn zu Gesicht bekommen habe, innerlich eine komplexe Beziehung zu ihm entwickelt habe. Ich erzähle von meiner Welt und er geht mit mir um. Es gibt kein einzelnes menschliches Wesen, das nicht mit mir, nur aus sich existierte und keine Verbindung zu anderen menschlichen Wesen hätte. Jede Person ist eine Welt in sich, eine Gesellschaft vieler. Dieses Selbst, dieses ureigenste Leben, das tatsächlich so kostbar ist, auch wenn es so gleichgültig für selbstverständlich gehalten wird, ist eine komplexe Struktur, die seit dem Tag meiner Geburt von zahllosen, nie endenden Einflüssen und Wechselwirkungen zwischen mir und anderen gebildet und ent-wickelt wurde und immer noch wird. Diese anderen Personen sind in der Tat Teile von mir selbst. Und ich selbst übte und übe noch immer auf ähnliche Weise Einfluß und Wirkung auf alle anderen aus - ob ich will oder nicht. Und vor allem auf jene, die in einer gefühlsmäßigen Beziehung zu mir stehen, die mich geliebt oder gehaßt haben. Der Mann bleibt stehen, lehnt sich lehnt an einen Felsen, den Kopf auf die eine Seite gedreht, die Arme liegen schlaff auf ihm und die Beine leicht angewinkelt, als gehe er in die Knie. Er blickt zurück, hört das Rauschen des Windes.
Ich werde plötzlich müde und wünsche mir, nicht mehr weiterzudenken, sondern das walten zu lassen, was mir der Schlaf schenken würde, wenn ich mit geschlossenen Augen mein Leben vorüberziehen ließe wie einen Windhauch, der meine Wimpern streichelt.


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