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9. Die Wahrheit ist doch nur die beste Lüge. Was ? Schlagen wir sie einfach tot.


© Helmut Eisendle

Der Mann hört aus der Ferne einen Schuß. Jäger. Jagdgesellen. Man braucht es nicht zu sehen. Jeder kennt das Geräusch. Es ist erfunden für den Tod. Aber den Tod haben wir abgeschafft. Warum ? Gestorben wird elend und heimlich. Unheimlich. In Abstellkammern, Sterbezimmern, auf der Straße. Überall. Als Tatsache gibt es den Tod nicht. Es gibt nur seine Vorstellung. Und Darstellung. Im Fernsehen. Wozu ? Wozu ? Weil wir leben wollen. Weil wir noch leben. Jeder strebt seiner Niederlage entgegen. Jede Waffe ist ein Mordsding, ein Werkzeug für das Jenseits. Und man muß sich entscheiden.
Zum Übelsten im Leben gehört das Schwanken zwischen den Möglichkeiten, ohne Entscheidung. Je eher sich Vernunft oder Glaube für eine Möglichkeit entschieden hat, desto heftiger verstricken sie sich in Ratlosigkeit. Ununterbrochen geht es einem so ? Wie geht es dem Normalbürger ? Wann entscheidet er sich ? Wozu ? Wofür soll er sich entscheiden ? Er liebt doch nichts mehr als sein entscheidungsloses Leben. Und doch. Es braucht einen herzhaften Entschluß zum . . . ja, zu was ? . . . zum Leben, zum Abenteuer. Ein Abenteuer. Eine Tat. Ein Erlebnis. Ein bitteres vielleicht. Oder eine Wohltat. Eine Wohltat für den Täter, eine Untat für den anderen, für das Opfer. Die Mehrheit der Menschen ist zu nichts imstande. Sie gibt sich hin. Sie tut nichts. Sie wartet, sie hat Angst, ist gleichgültig. Man muß am Wegkreuz stehen bleiben und eine Münze werfen. Immer wieder. An jeder Kreuzung. Kopf oder Adler. Kopf gewinnt, Adler verliert. Ein erlegter Adler, ein Kopfschuß. Bei jeder Handlung gibt es zwei Faktoren: die Lust, sie auszuführen und die Angst vor der Gefahr, die hinter allem steckt. Die Frage ist: was ist die erste Regung, bevor ich noch Zeit finde, zu überlegen ? Lust oder Angst ? Überwiegt in mir die Lust etwas zu tun, oder habe ich Angst und schleiche mich lieber davon ? Ja, so sind wir doch alle. Auch die Herren Politiker, die Manager, alle eben, diejenigen, die einer Arbeit nachgehen. Alle haben kein Rückgrat und viel Sitzfleisch. Geschaffen für Kannibalen. Stümpfe von Menschen mit Angst vor jeder Veränderung. Der Körper gehört der Nation, dem Volk, hat Baldur von Schirach gesagt, und der Nation verdankst du alles, das Dasein, dein Leben. Das waren Parolen, nicht ? Das bezogen auf die Deutschen und Amerikaner, auf die Europäer ? Gibt es die überhaupt ? Die Deutschen gibt es. Sicher. Die gibt es. Deutschland. Europa. Deutschland. Es schätzt sich gering ein. Wie sich die Amerikaner gering einschätzen, wenn sie über sich selbst reden und sich selbst beurteilen. Beide, die Deutschen und die Amis, schätzen sich aber sehr hoch ein, wenn sie sich mit anderen vergleichen. So ist es. Es geht ihnen ums Geld und ein Stück von der Welt. Mt Waffengewalt. Es gibt die Waffe, damit einer den Finger krumm macht. Oder viele.
Die Menschen sind weder gut noch schlecht, weder scharf noch milde, weder verbrannt noch ausgekocht. Sie sind das, zu dem sie die Dinge machen.
Wie rede ich über den Menschen, die Krone der Schöpfung? Alles, was man über Menschen sagen kann, ist, daß sie von Dingen abhängig sind. Menschen weinen mehr oder weniger dem Verlust ihrer Träume nach. Alle unterliegen dunklen Wünschen, die sie nicht, nie und nimmer, auszusprechen wagen und erfüllen können. Zu beurteilen, bis zu welchem Grad wir Menschen gelungen sind, steht mir nicht zu. Ich weiß weder etwas über mich noch über andere. Und wüßte ich etwas, wäre es nicht die Wahrheit. Was ist denn bei all` dem Jahrmarktsrummel, der in der Welt herrscht, aus der Menschlichkeit und der Wahrheit geworden ? Was denn ? Die Wahrheit ist doch nur die beste Lüge. Was ? Schlagen wir sie doch tot. Einfach tot. Die Wahrheit und die Menschlichkeit. Es ist beides nichts wert. Gewalt und Lüge. Wahrheit und Menschlichkeit. Schaffen wir sie ab. Wäre die Welt dann ehrlicher, wahrhaftiger ? Sie wäre erträglicher, denn die Wahrheit ist unerträglich. Auch ohne Geld ist die Welt nicht ärmer. Ich stelle mir die Menschen ohne Masken vor. Entsetzlich. Für die Masken brauchen wir die Menschlichkeit und die Lügen. Sie erleichtern uns das Leben. Zur Hölle mit der Wahrheit, zur Hölle mit ihr. Die Menschlichkeit ist eine abstrakte Größe von Schönheit. Menschlichkeit. Was für ein Wort. Es ist ein Begriff, den die Menschheit sich für die Zeiten der großen Gemetzel aufspart. Wenn man dieses Wort benützt herrscht Krieg. Gewalt. Tyrannen sind menschlich. Oder sollen es sein. Menschlich können nur Sieger sein. Unmenschlich ist der Krieg und die Niederlage. Den Verlierern geht es elend. Sie brauchen die Menschlichkeit. Menschlich sind Verlierer nie. Immer nur der Sieger. Richtig. Ist er das ? Die Menschlichkeit ist wie ein Geschoß, das alles wieder gutmacht. Alle Gewalt wird vertretbar. Die Menschlichkeit fährt dem Verlierer ins Gehirn und macht den Tyrannen zum Menschen. Und den Polizisten mit der Waffe in der Hand zum Freund und Helfer. Also weg mit der Menschlichkeit. Schaffen wir sie doch ab. Dann verschwindet vielleicht sogar die Unmenschlichkeit aus der Welt. Alles ist dann endlich wie es ist. Genau genommen hat aber jeder sein Häufchen Unrecht und Unmenschlichkeit bei sich und wenn es nur der Ignoranz ist. Das Eigenartige an den Menschen ist wohl, daß es zum guten Ton gehört, mit einem Schuldkomplex zu kokettieren. Ja, vor dem Gesetz und auch in Hinblick auf eine Mittäterschaft, zumindest eine Mitwisserschaft sind wir alle gleich unschuldig. Wir haben im Nachhinein davon erfahren. Nicht mehr. Oder ? Wir sind genauso dafür, daß Ceausescu und seine Frau abgeknallt werden wie wir gegen die Todesstrafe sind. Unser politisches Unterbewußtsein gerät zusehends in ein Dilemma. Wir sind immer erschreckt, irgendwie dagegen und ein bißchen dafür. Und wissen sowieso von nichts. Alles, was unserer Nation gut tut, lieben wir, alles was ihr schadet, geht uns nichts an. Und wir sind hinter der Hand dagegen. Da sind die Deutschen wie die Österreicher. Oder umgekehrt. Die Österreicher sind gerne deutsch. Unser Mozart, unser Goethe, sicher. Unsere Beethoven, sicher. Unser Haydn, sicher. Unsere Nationalhymne. Haydn war doch Niederösterreicher ? Unser Deutschland. Ja, ganz so sicher sind wir uns da nicht mehr. Unsere Heimat. Das geht mittlerweile wieder. Unser Auschwitz, Dachau. Das sagen nicht einmal die Dachauer. Unsere Juden. Nein. Unsere Gaskammern ? Nein. Unsere zweiter Weltkrieg ? Unsere Ausländer ? Vielleicht. Das Gewaltmonopol unseres Staates. In diesem Jahrhundert ist - was den Tod betrifft - etwas Neues aufgetaucht. Was ? Es war doch alles schon da. Ja, Kriege. Vielleicht. Aber. Was aber ? Hiroshima. Die Atombombe.
Von einem Demokraten ist der Befehl des Abwurfs gegeben worden. Oder war er ein Republikaner ? Damit hat die Menschheit den totalen Vernichtungskanon begonnen. Die Deutschen haben den Völkermord, den Holocaust eingeführt. Und den Untergang der Welt. Die neuen Errungenschaften der Menschheit. Anscheinend haben die mechanischen und physikalischen Wunderwerke wie der Colt und die Atombombe bei den Amerikanern einen psychischen fallout ausgelöst. Und beim Bürger ein Funken von schlechtem Gewissen oder sogar ein Gefühl von. Der Mensch neigt dazu, sich selbst auszurotten. Das ist einmalig in der Natur. Die Lemminge. Die irren sich nur. Wir aber machen es mit Absicht. Massenverfolgung, Völkermord, Weltsuicid. Unter Umständen ist es eine schizophrene Spaltung zwischen Vernunft und Gefühl. Ja. Wir können auf den Mond fliegen, aber in Jugoslawien herrscht ein blutiger Krieg. Die Nationalhymnen. Gott erhalte Franz den Kaiser; Deutschland, Deutschland, über alles; Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland. Alles die gleiche Melodie. Und ? Es braucht eben klare Verhältnisse. Eine Welt aufgeteilt in Geber und Nehmer ? Diener und Herren ? Irgendwie muß alles verteilt werden. In Verlierer und Sieger. In Überlebende und Tote ? Nein. Der, der überlebt, hat recht. Ja ? Was für ein Recht ? Ein Faustrecht, das paßt. Das Unbewußte kennt weder Zeit noch Tod. Im Grunde genommen glaubt keiner, daß er sterben muß. Ist es nicht so ? Gott ist tot, die Natur ist tot, der Mensch ist tot und der Tod ? Die Natur weicht der Technik, der Mensch dem Computer und der Tod dem immerwährenden Dahinsiechen des Älterwerdens. Amok. Ein Amokläufer ist einer, der durchdreht oder ? Ein Verrückter ? Ja, vielleicht. Ein Amokläufer ist einer, der in einem Anfall mörderischer, sinnloser Monomanie alles zerstört, was ihm in die Quere kommt. Es läßt sich mit nichts vergleichen, sagen die Ärzte. Unter Umständen geschieht es folgendermaßen: Irgendein einfacher, gutmütiger Mensch, der redlich seiner Arbeit nachgeht, nie besonders auffällig war, nicht mehr trinkt als andere, ein Gläschen nach der Arbeit oder vor und während des Fernsehens. Er ist einer, der sich alles anhört, geduldig, von seiten seines Chefs, von seiten der Familie, ja, alles läßt er über sich ergehen, auch die ganze Politik, die Kultur, die Kolportage über die Welt, über die Kriege, über die Katastrophen. So einer steht plötzlich auf, geht in den Holzkeller, holt eine Axt und rennt los, irgendwie schon von Anfang an außer Atem, immer schneller, immer mehr ohne Ziel. Alles, was ihm in den Weg kommt, zertrümmert er, die Schaufenster, die Zäune und Hecken, die Autos. Er rennt in die Firma, wo er arbeitet, vernichtet seinen Arbeitsplatz, erschlägt seinen Chef, der ihm mit offenen Armen entgegenkommt, er tötet den Portier, der sich ihm in den Weg stellt, einen Kollegen, er rennt und rennt weiter, weiter, immer weiter, sieht weder nach links oder nach rechts, er rennt mit seiner blutigen Axt immer weiter in ein entsetzliches Geradeaus. Bis man ihn totschießt wie einen tollwütigen Hund. Das ist die Geschichte des Amokläufers. Ja, man knallt ihn ab wie einen tollwütigen Hund. Ist doch in Ordnung, nicht ? Was soll man denn sonst machen ? Na ? Was denn ? Was denn ? Es gibt ihn eben. Den Amokläufer. So wie mich. Der Mann steht auf und geht langsam weiter. Nach oben.


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