Roman
Irgendwann musste er zurückkommen. Er war ja nicht ausserhalb
der Welt. Zwanzig Jahre lang. Er musste zurückkehren, aus
dem Nichts oder allen seinen Träumen und Phantasien.
Die psychische Improvisation - oder das Doppelich, welches das,
was für ihn Wirklichkeit war, ermöglichte, hatte ein
Tabu: es durfte hinter seiner Maske niemals ihn selbst erkennen,
um - ja, warum ? - um das endlos scheinende Spiel nicht zu stören.
Spiel. Es war ein Spiel. Immer schon.
Seine Handlungen waren und sind alle vom Spiel durchdrungen. Sein
Sprechen, die Sprache, das, was uns von anderen Wesen angeblich
unterscheidet, zum Beispiel: Das wichtigste Werkzeug, das der
Mensch erfunden hat, um sich mitzuteilen, um zu befehlen oder
zu lehren, sich und die Welt zu begreifen, hat etwas Spielerisches,
denkt er. Hinter jedem Ausdruck für etwas steht ein Bild
und hinter jedem Bild steckt ein Wortspiel.
So schafft er sich immer wieder einen Ausdruck für das Dasein,
indem er eine Welt der Sprache über die Welt der Natur legt.
Wenn ich ein Wort verwende, lässt Lewis Carroll Humpty Dumpty
sagen, dann heisst das, dass ich es für das halte, was ich
will. Nicht mehr und nicht weniger.
Ich frage mich, antwortet Alice, ob Wörter nicht andere Bedeutungen
haben können als Du willst?
Es kommt darauf an, wer es sagt, und ob der, der etwas sagt, der
Stärkere ist, kontert Humpty Dumpty.
Alice in Wonderland1). Krakauer in der Wunderwelt.Die Phantasie
mit dem Mittel der Sprache war seine Welt.Er liebte und liebt
das Halbdunkel, dieses Augengrau bei halb geöffneten Lidern.
Wenn die Aussenwelt, die Wirklichkeit, wenn die Welt der anderen
als Schimmer oder Licht durch die Augenschlitze dringt oder durch
die Ritzen der Rolläden fällt, fühlt er sich wohl.
Er weiss, dass er nicht alleine ist. Draussen gibt es etwas, Menschen
und ihre Wirklichkeit.
In dem seltsamen Käfig, in den er sich freiwillig begeben
hat, in diesem Exil gestattet er sich alle Beziehungen, die er
wünscht und braucht, die ihn am Leben erhalten.
Er liebt nur die Welt aus Büchern. Hinter jedem Buchdeckel
sei ein Leben, glaubt er. Diese Leben seien mehr wert als irgendwelche,
die sich in sinnlosen oder aber auch tüchtigen Handlungen
zur Sicherung der Existenz definieren und Karrieren vorstellen.
Diese an Namen gebundenen Leben. Mit Namen zimmern wir keine Fächer
in unseren Seelen. Auch mit dem Namen Krakauer nicht.
Er stellt sich einen schönen Platz unter drei Linden vor:
ein Tisch, drei Stühle in einem grossen, grünen Garten.
Dort sitzt einer und redet, denkt und lässt dem Leben seinen
Lauf.
Seine Einstellung zur Welt von der Warte der Phantasie und Träumerei
hat ihn stets von der Welt entfernt oder besser: ferngehalten.
Die Welt hätte ihn unter bestimmten Umständen nicht
ertragen. Welchen Grund hätte sie auch gehabt ?
Er war, von der Warte der Welt aus betrachtet, zu nichts nutze.Man
könnte ihn als selbstsüchtig bezeichnen. So etwas wie
ein Egoist, der nichts will von der Welt, ausser sich in ihr zu
sehen.
Allerdings hat er sich über Nutzen und Recht der Menschen,
über Wert und Verwertbarkeit wenig oder nie Gedanken gemacht.
Es ist eben nicht üblich, dass die Nichtsnützigen sich
über ihre Existenz verantworten. Er hat die Welt in seiner
Vorstellung geliebt wie er sie immer noch liebt.
Sie ist nicht mehr wert als eben geliebt zu werden, denkt er heute.
Hass oder Verachtung ist ein Traum nach Veränderung. Etwas
für Altruisten. Sie fordern und verursachen Kosten. Ein Egoist
ist allein mit sich. Was soll sich an und in der Welt ändern,
wo doch alles in irgendeiner Richtung schwirrt, wo alles sich
ununterbrochen ändert und verändert ?
Das stumme Gegenüber der Welt in Büchern, eine Vorstellung
von Welt ist das, was sein Bewusstsein erfüllt, ja, nach
wie vor bis zum Platzen füllt.
Bewusstsein ist seine Illusion von Freiheit. Solange er das noch
besitzt, denkt er heute, kann er sich etwas denken, auch die Freiheit.
Gehorsamkeit, welche von Menschen in Gemeinschaft stets gefordert
wird, hat er aufgehoben, mehr als jeder oder jede andere, auch
wenn er sich den Zwängen und Oktroyanzen toter und lebendiger
Autoren und Künstler hinzugeben pflegt.
Die Individualität, jener Abweg, oft tragisch, oft genussvoll,
oft ein Fussteig neben der Hauptstrasse, die man Leben nennt,
meint er, gerade das habe er in ein Nichts aufgelöst. Er
sei verschwunden. In irgendeinem Haus, irgendeinem Land, einer
Stadt, einem Zimmer, umgeben von Büchern, in einer Bibliothek.
Fiebriger Alltag
(The febrile workaday)
Ich liebe die Nacht. Sie ist ein Teil von mir, trotz des Regens.
Die Dunkelheit paßt mir wie ein Maßanzug.
Der Regen hämmert gegen die Scheiben und läßt
den Scheibenwischer Fontänen davonspritzen.
Ich gebe dem Fahrer das Geld, steige aus und warte, bis der Wagen
im Regen verschwunden ist.
Dann mache ich mich auf den Weg.
Ich gehe die Häuser entlang, die wie faule Zähne in
den Gegend stehen. Vor der Markthalle warte ich und sehe Louise.
Sie kommt auf mich zu und bleibt dicht vor mir stehen.
Morgen ist es zu spät. Ein kleiner Fehler und Du stehst im
Sterberegister. Damals als Du noch jung, schnell und stark warst,
wäre es gegangen. Die Kraft ist weg, Alter. Der Saft reicht,
um Dich zu ertränken.
Warum sagst Du mir das, Louise ?
Ich habe mit Dora gesprochen. Alles klar.
Na und, laß mich, Louise, laß mich.
Ich drehe mich auf den Absätzen um, gehe und zünde mir
eine Zigarette an.
Und nun ist er plötzlich da. Er ist aufgewacht aus einem
zwanzigjährigen Schlaf und Traum. Plötzlich. In Wien.
Er ist zurück in eine Welt gekommen, in der er sich nur versteckt
hatte. Zwanzig Jahre. Lang genug.
Nein, er erzähle nichts davon. Er habe einiges erlebt in
den zwei Jahrzehnten. Sicher. Aber was interessant sei, wäre
sein Denken, diese endlose Folge von Gedanken. Dieser Zustand,
der sich nur durch Niederlagen, Verwerfnisse, Träume am Leben
erhält.
Anarchism as an idea is nonviolent. It¥s Philosophy is
Spinozan, Ethical and natureloving. Dieser Satz und darüber
die Plastikhülle eines Spielzeug- revolvers waren früher
Symbole für sein Denken gewesen.
Heute ?
Vielleicht habe er grosse Gefühle. Grosse Gefühle. Oder
grosse Gefühle über das Spiel, das er treibe und getrieben
habe ?
Der Begriff oder die Bedeutung des Wortes Spiel bleibe stets in
merkwürdiger Weise jenseits der übrigen Gedankenformen,
in denen man Strukturen des Geisteslebens und des Lebens in einer
Gemeinschaft auszudrücken wünsche.
Ich spiele, denkt Krakauer. Sicher, ich spiele.
Wenn das Spiel aber nicht ohne weiteres mit dem Wahren und auch
nicht mit dem Guten zusammenzubringen sei, wo liege es dann ?
In der Sprache ? Sicher. Im ƒsthetischen ? Da sei er
sich nicht sicher. Nicht mehr.
Das Spiel liege ausserhalb von Weisheit und Torheit, es liege
aber ebensogut ausserhalb der Wahrheit und Lüge. Obwohl Spielen
etwas Geistiges sei, wäre es nicht greifbar, zumindest nicht
zu fassen.
Ja, damit habe sein Leben und Bewusstsein zu tun. Das Idyll des
Bewusstseins. Sicher. Es sei un- fassbar, unfasslich. Und doch
sei er glücklich, dass es so und nicht anders mit ihm gekommen
sei. Erbarmen und Mitleid entstünden nur aus der Vorstellung
der Menschen, dass dem anderen etwas abgehe oder dass er ohne
einen nicht auskommen könne. Er könne sich, meint er,
mittlerweile die Menschen leisten. Er kaufe sie nicht, er könne
mit ihnen leben, sie lieben wie er die Welt liebe. Den Hass und
Verachtung seien sie nicht wert. Tatsächlich. Meint er.
Er sähe die Menschen. Männer, Frauen, Kinder. Sie gingen,
geschäftig oder gemächlich, allein oder in Gruppen,
Paare. Sie seien in Bewegung. In ihren Gesichtern bildeten sich
Gesten, Gebärden, Blicke, ihre Körper gäben Zeichen
von sich. Sie scheinen zu leben. Er sähe sie leben.
Seine Beziehung zu den Menschen sei einzig und allein durch die
Wahrnehmung von ƒusserlichkeiten bestimmt. Bis auf wenige
Ausnahmen. Ganz wenige. Zwei, drei, fünf Personen. Mehr seien
es nicht.
Aus seiner Welt sähe er in eine andere, grössere, bewegte,
laute. Immer schon. So wäre es auch vor zwanzig Jahren gewesen.
Er habe nichts gegen die Menschen. Im Gegenteil, irgendwie - ja,
was ist das schon ? - irgendwie liebe er sie. Und doch seien ihre
seltsamen Lebensarten seinen nicht nahe. Die Entfremdung, die
freiwillige Entfremdung sei sein Begriff von Freiheit. Diese Entwicklung
habe er bewusst vollzogen. Stets.
Wäre er bei den Menschen geblieben, hätte er sich eingefügt
in diese Menschheit, hätte er das traurige Los des Misanthropen
wählen müssen. Oder des Altruisten. Ein verzweifelter
Altruist. So aber - in freundlicher Distanz - sei er nach wie
vor Philanthrop. Auf sich bezogen. Ein Egoist. Freiheit sei Freiwilligkeit.
Den Menschen sei jede Art des Spiels, das nicht Gewinn bringe,
fremd. Er spiele ohne Gewinn und Verlust. Nur so. Er spiele mit
allem, und alles sei sein Spiel, ja, irgendwie seiner Herrschaft
unterworfen. Herrschaft übe der aus, der die Regeln aufstelle.
Das tue er. Er sei zugleich Gewinner und Verlierer. Er stelle
Regeln auf, die nur er kenne.
Spiel sei seine Lieblingsbeschäftigung. Er habe einen Gutteil
seines Lebens damit verbracht. Der eine sammle Ideen, Argumente,
Geld, Worte und Werte, der andere Biertassen, Briefmarken, Käfer
oder deren Bezeichnungen oder Bücher wie er. Im Hintergrund
gäbe es ein vernünftiges Bedürfnis, eine Notwendigkeit.
Es sei immer plausibel, was man tue. Ein Erlebnis. Vordergründig
seien die meisten Dinge Narreteien.
Er sammle Spielzüge eines Spiels, das nur er kenne.
Eine Narretei. Eben nicht.
Er wisse, was er tue, obwohl er nicht wisse, ob es Menschen ausser
ihm nütze. Er habe viele Ideen in sich.
Die Ideen, denkt er, die Menschen im Kopf haben und nicht die,
welche wir realisieren, die im Kopf sind das Einzige, was uns
unterscheidet. Nur damit trennen wir uns. Meint er. Diese Unterscheidung
sei auch unglaublich wichtig, viel wichtiger als die angestrebte
Anpassung an den Wohlstand und an das Wohlbefinden des anderen.
Um uns vom anderen abzusetzen, sei ihm jedes Mittel der Phantasie
recht. Auch das der einsamen Armseligkeit. Und das sei gut, glaubt
er.
Die Menschen befänden sich eigentlich in einem riesigen Saal.
Es sei ein prunkvoller Raum voll mit Alten, Jungen, Reichen, Armen,
Frauen, Männern, Kindern, Greisen. Durch Spiegel an den Wänden
würde der Saal ins Unermessliche erweitert. Er würde
dadurch zur Welt. Alle, die hier versammelt seien, redeten, redeten,
redeten, durcheinander, produzierten Ideen. Man höre, betrete
man den Raum zum ersten Male, vorerst nur ein Stimmengewirr, kaum
einen Satz, kaum ein Wort.
Ich habe gespielt. Immer schon. Tatsächlich. Diesmal aber
war es ein starkes Spiel. Ich hatte zwar nur einen einzigen Montezuma,
aber er war mir zugefallen in einem Moment, wo keiner mehr an
so etwas geglaubt hatte. Es waren eben meine Würfel. Und
keiner hat es gesehen. Sie hätten es aber sehen können.
Vielleicht hatten sie ein wenig Verdacht. Ein wenig nur. Zu wenig,
um etwas zu sagen. Wenn ihr Verdacht wirklich vorhanden gewesen
wäre, ja, dann ? Aber bei mir ? Ich habe ihr Vertrauen. Gehabt.
Einen anderen hätte sie sofort zerlegt, bei mir aber machten
sie eine Ausnahme. Sie kannten mich. Und ich habe meine Eigenheiten.
In der Brusttasche, wenn es sein muß.
Sie haben es übersehen. Vielleicht wollten sie gar nichts
sehen ? Es war nicht eindeutig.
Ich bin ein alter Fuchs. Ein grauer shark, wie sie sagen.
Ich werde zu meinem Geld kommen. Früher oder später.
Eher heute. Sicher. Das entspricht meiner Art zu leben. Niederlagen
müssen klar definiert sein. Hinter jedem großen Gewinn
stehen viele kleine Einbußen. Jede Niederlage reizt. Es
ist wie beim Schachspiel. Wer aufgibt, weil die Dame weg ist,
hat schon früher verloren. Ohne Dame ist der Sieg schöner.
Die Aufholjagd, sagen die Radrennfahrer ist das Mittel zum Sieg.
Ich kann auch froh sein, daß sie mich erst im Nachhinein
verdächtigt haben. Wenn überhaupt. Sicher sind sie noch
immer nicht. Aber es war so. Es waren meine Würfel. Sie hatten
Gründe, mich zu verdächtigen, ja. Und ich bin jetzt
hinter dem Geld her. Außerdem waren da die Brüder Radu
und Vlado. Die waren auch von der Partie. Und haben nur Witze
gemacht. Das hat sie am meisten gereizt. Zu meinen Gunsten. Und
jetzt sitze ich hier in der Bar und warte. Muswell und Dutch sind
grade gekommen. Kurz nach mir. Sie sitzen neben dem Fenster. Ich
gebe ihnen ein Zeichen. Ja, alles klar. Später. Sie sind
weit genug von mir weg. Einer ruft Marko. Jetzt kommt McIntosh.
Das ist mein Glück. Er sieht uns alle und verschwindet sofort
auf der Toilette. Dann betritt Joey Jankovicz das Lokal, grüßt
und setzt sich zum Eingang. In der Hand hält er eine braune
Tasche. Da ist es drin. Vielleicht.
McIntosh kommt aus der Toilette, Joey sieht ihn und macht eine
Bewegung. Es ist fast eine Drohgebärde. Eine Kriminalgeschichte.
Sie scheint zu beginnen. Fiebernder Alltag.
Er wäre lange in diesem Prunksaal gewesen. Dann kurz draussen.
Jetzt habe er ihn wieder betreten und versuche sich zurechtzufinden.
Es sei ein Irrtum anzunehmen, es gäbe Ideen, unwandelbare
Ideen des Tuns und Lassen, des Wollens und Verhinderns, der Liebe
und des Hasses. Menschen, welche das Leben in ein derartiges System
pressten, befänden sich auf einem sakralen und nicht auf
einem realen Weg. Sie glaubten ans Jenseits, indem sie im Diesseits
jonglierten. Was durch Worte, durch Sprache bezeichnet sei, sei
so veränderbar, so wandlungsfähig wie die Worte selbst.
Das Handeln sei ein Widerspruch zum Reden. Die Beschreibung sei
nur sie selbst, das Tun, die Tätigkeit, die Tat, Mord und
Totschlag, Liebe und Raserei hätten Worte längst hinter
sich gelassen. Was bliebe, seien Erfindungen, Träume, die
Stilisierungen von Wirklichkeit, die Phantasie einer Innenwelt
und zugleich seine Realität.
Wenn es Weisheit überhaupt gäbe, bestünde sie darin,
zu begreifen, dass Handlungen, Gebärden, die Taten, die man
an Ideen gebunden vollzieht, von diesen nicht, überhaupt
nicht abhängig seien.
Den Ideen folgten Aktionen und nur weil die Welt voller Aktionen
sei, meine man, die Gedanken seien die Väter von Handlungen.
Die Idee sei eine seltsame Blüte der Praxis, nicht deren
Wurzel wie man glaubte. Trotzdem seien diese seltsamen Blüten,
die aus den Köpfen spriessten, kein Makel, sondern ein Element
des Lebens, zumindest ein Lebenselement dessen, der mutlos geworden
sei.
Und die Beschreibung des Handelns sei nur ein schwaches Surrogat
dessen, was geschehe. Es sei nichts Endgültiges, sondern
eine Momentaufnahme des Prozesses zu einem unbekannten Ziel. Ein
Stück Sprache auf den Nenner einer vermuteten Wirklichkeit
gebracht.
In mir, denkt Krakauer, gibt es keinen Zweifel darüber, dass
der ganze geistige Verkehr zwischen den Menschen nichts anderes
ist als eine grosse Hysterie mit der man zu beweisen versucht,
dass man das eben sei, was man sei, ein Mensch von besonderer
Bedeutung.
How my soul hates. This language, which makes life itself a lie,
sagte Lord Byron.
Sei das eine Liebeserklärung ?
Oder gehe er zurück ?
Wohin ?
Zurück in die Wirklichkeit.
In die Wirklichkeit der Sprache.
1Lewis Carroll, Alice in wonderland