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I. Grosse Gefühle

Es gibt Friedhöfe, die eine vergangene Kultur ausstrahlen. Und andere, welche der Zeit entsprechen, die immer Rationalität, Ordnung und Organisationswahn vermitteln.
Krakauer spazierte durch einen Friedhof der ersteren Art. Hohe Bäume, alte Gräber und Grabsteine, Inschriften, ovale Keramikbildchen von Toten aus vergangenen Zeiten.
Er bleibt stehen und schiebt mit der Hand den Efeu zur Seite, der über einen grossen, schwarzen Stein wächst.
Pierre de Rose.
Hier liegt er also.
Ich erinnere mich.
Damals in München.
Tagelang war ich mit Pierre de Rose durch die Stadt und die Lokale gezogen. Wir waren Figuren des nachtländischen Reiches. Und obwohl wir in der Gosse waren, sahen wir die Sterne über uns. Könnte von Oscar Wilde sein: Wir alle liegen in der Gosse, nur einige sehen den Himmel. Vielleicht.
Wir schliefen, wo wir bewusstlos wurden; an der Theke einer beliebigen Bar, in einer Gaststube, auf der Strasse, in Hausfluren, Durchhäusern, in der U-Bahn, im Pissoir.
Trotzdem, unterschied uns etwas von den Kollegen, den Bewohnern des nachtländischen Reiches. Zumindest am Anfang redeten, dachten wir noch, hatten Spass, uns in eine Rolle zu begeben, immer mit der sicheren Distanz der Überlegenheit dessen, der es besser weiss, der irgendetwas auf der hohen Kante hat und wenn es nur ein Überziehungskredit war, irgendeiner, der sich als Sportsmann fühlte. Ja, wir fühlten uns als Sportsmänner die das Leben entdecken wollten. Wie Tristano, mit dem wir manchmal zusammen waren und den es doch irgendwann erwischen sollte. In München auf der Autobahn.
Wir lebten gleichsam im luftleeren Raum zwischen dem Normalen, der verdrossen seiner Arbeit nachgeht, und dem Verlorenen, dem im Asphalt der Grosstadt Gestrandeten. Über die einen lachten wir, über die hinter den Schaltern, die in den Geschäften und Büros, wir machten Spässe und provozierten sie, die anderen aber waren unsere Brüder, Menschen, die unser Mitgefühl besassen. Wir spielten mit dem Gedanken, so wie sie zu sein. Das Stigma, das unser Äusseres, unsere Verhalten vermittelte, machte uns gleich. Wir genossen die Bruderschaft zu den Letzten dieser Welt, und jedes zahnlose Lächeln war uns ein Beweis für unsere eigene verkommene Überlegenheit. War es nicht eine überlegte Verkommenheit ? Wir waren nicht sie, wir hatten Geld, für uns war das Ganze eine Attitüde, ein Einfall, eine Wendung aus Langeweile. Vormittags wenn die einschlägigen Lokale geschlossen waren, sassen wir mit einem Hot-Dog oder Döner Kebab in einem Park, neben uns einen Doppelliter Roten oder ein Sechserpack Bier. Das war die Stunde der Theorie. Am Abend folgte die Praxis. Wir begaben uns in das nachtländische Reich, das feuchte Zauberreich der unzähligen Stehausschänke, zum Hauptbahnhof. Wir waren wie die vermeintlichen Brüder, welche die Bierreste der Grosszügigen tranken, umherlungerten und die Abscheu der Ankommenden und Abfahrenden genossen.
Der Bahnhof war uns ein lieber Ort. Bahnhöfe sind Stationen der Sehnsucht für jene, die irgendwo geboren sind, die Türken, Bosnier, Slowenen, Kroaten, Serben, die Dunkelhaarigen aus Mostar mit ihrem natürlichen Wunsch nach der fernen Heimat, ihren Bergen, dem Meer, dem Süden, der karstigen Landschaft, in der die schwarz gekleideten Frauen warten.
In Grüppchen standen sie im Kreis und vergassen, wo sie waren. Wir standen bei ihnen, tranken mit ihnen, waren gut Freund mit ihnen, gaben vor, welche von ihnen zu sein.
Oder wir trafen Stadtstreicher, Berber, Penner.

UNSERE ÜBERLEGENHEIT DEN ANDEREN GEGENÜBER VERSCHWAND ALS WIR EINEN BESTIMMTEN GRAD VON VERKOMMENHEIT ERREICHT HATTEN. WIR VERFIELEN GLEICHSAM, WURDEN EKELERREGEND, EINSAM, HOFFNUNGSLOS, UNFÄHIG, DEN BEWUSST EINGESCHLAGENEN WEG ZU VERLASSEN. WIR BEGABEN UNS INS DUNKLE, INS FEUCHTE ZAUBERREICH, IN DIE DÄMMERUNG DER DELIRIEN.


3.

Manchmal weiß man nicht wie man mit Menschen dran ist, vor allem nicht, wenn es solche Typen sind. Aber ich kenne sie. Alle. Marko bringt Muswell und Dutch je einen Kaffee und einen Whisky. Justerini & Brooks. Wie immer.
Sie blicken zu mir her, lassen mich aber in Ruhe.
An der Theke lehnt McIntosh.

Er führt für Joey Jankovicz ein schwarzes Wettbüro für die unzähligen Würfelpokerspieler in den Lokalen der Innenstadt.
Er ist sichtlich nervös, raucht und trinkt hastig einen Campari nach dem anderen. Seine Blicke fliegen zwischen Muswell und Dutch hin und her. Mich sieht er nicht. Ich aber sehe ihn. Als Joey Jankovicz aufsteht und auf die Toilette geht, folgt ihm McIntosh. Es ist klar, was sie machen. Die Sache scheint sich doch zu meinen Gunsten zu verändern. Muswell und Dutch schauen den beiden nach. Gut so.
Ja, es ist ein Spiel. Wie hunderte Male zuvor. Aber es geht um mehr Geld als üblich, um viel. Wer das Spiel nicht kann, soll zusehen, habe ich gesagt. Das war wohl der Anlass. Eigentlich ging es um die Sache vor drei Jahren. Damals habe ich Glück gehabt. Heute muß ich es mir erst verdienen. Spielschulden sind Ehrenschulden. Auch für Ehrlose wie uns. Scheint so. Muswell und Dutch benehmen sich so als ließen sie mich in Ruhe. Ich werde es ja sehen.
Sie sitzen da wie im Kino und beobachten die Szenerie. Alle Gesichter, die Körper sind Stehkader eines Films, den sie zu verstehen glauben. Die Akteure sind ich, Joey und McIntosh. Und die Brüder. Ich bin froh, daß ihre Blicke mich nicht mehr treffen. Ki nem tud játszani, nezzé a játékot, hätten Radu und Vlado in so einer Situation gesagt. Bei mir ist es anders. Irgendwie bin ich eine Ausnahme. Ich komme aus mit ihnen. Ich bin intelligent genug. Sobald sie mich in die Zange nehmen würden, hätte es keinen Sinn wegzulaufen. Sie sind durchtrainiert, sportlich und durchtrieben. Aber dumm. Stockdumm. Eben. Ich aber intelligent. Sie sind wie Tiere. Wenn man sich auf sie einläßt und nicht gleich davonrennt, hat man unter Umständen noch eine Chance. Man muß die Angst wegstecken.
Es ist wie mit Hunden. Wenn man einem Hund die Angst zeigt, beißt er. Unbarmherzig. Wenn man ihm einen Fußtritt gibt, winselt er. Die Menschen, zumindest diese hier, sind genau so. Die Dummheit der anderen ist immer eine Chance.

Feindschaft, Hass und Niedertracht kamen auf. Wir begannen zu kämpfen, um jedes Glas, um jeden Bierrest, um jeden Schnaps, immer geplagt von der Angst vor dem anderen. Ohne es zu wollen wurden wir in Schlägereien, verwickelt von trunkener Bösartigkeit getragen. Jedes kleinste Missverständnis genügte, das Bösartige lawinenartig zu entwickeln und jede Rücksichtnahme zu ignorieren. Wir lernten schnell den Abschaum der Grosstadt kennen. Wir gehörten dazu. Selten bei Besinnung, sahen wir vor uns nur das Grab des Säufers: den Kanal, den Strassengraben, die Gosse, das Pissoir, die geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt, das Gitterbett.
In einem letzten Aufraffen begannen wir Abschied zu nehmen. Wir kauften zwei Flaschen billigen Fusel und zogen uns zurück. Gleich Elefanten verschwanden wir im Sumpf des Asphalts, um uns den Rest zu geben, um in der Einsamkeit des Trinkers zu verkommen.
Wir lagen in einem Pissoir der U-Bahn und tranken bis zur Bewusstlosigkeit. Als ich am nächsten Tag erwachte, war Pierre verschwunden.
Wochen später traf ich ihn wieder. Bei Phyllis.

Ich kann mich erinnern:
Ich lief über die Strasse, stürme die Treppen hinauf. Läutete. Stille. Ich trat gegen die Tür. Schweigen. Noch einmal. Die Türe sprang auf. Das Licht brannte. Ich stürzte ins Zimmer. Im Bett lag Pierre de Rose. Plötzlich sah ich einen Schatten neben mir und spürte im selben Moment einen brennenden Schmerz im Unterleib. Phyllis, dachte ich. Sie hielt das Messer noch am Griff. Ihre Augen waren aufgerissen. Ich fiel vornüber. Ich sah Pierre, hörte ihn schreien, lautlos, er sprang aus dem Bett, riss das Telefon vom Nachttisch und stürzte zu mir. Er hob die Hand und schlug zu. Phyllis fiel zu Boden. Ihr Mund war geöffnet. Und ich stürzte in die schwarze Acht.
Ich habe ihn nie mehr gesehen. Und Phyllis auch nicht.
Es ist zwanzig Jahre her.
Jetzt stehe ich vor seinem Grab.
Grosse Gefühle.
Fast die ganze Welt ist sich selbst entfremdet. Und in der Entfremdung verlieren wir etwas Wesentliches: die Fähigkeit zu denken, uns zu sammeln, mit uns in Einklang zu kommen und uns darüber klar zu werden, was wir glauben und was wir nicht glauben, was wir lieben und was wir hassen. Die Entfremdung umnebelt und blendet und nötigt uns wie ein Besessener mehr oder weniger automatisch zu reagieren. Vielleicht ist es das Äffische am Menschen. Wir sind zwar Gottes Ebenbild, nicht aber das Vorbild der Affen, unserer nächsten Verwandten. Es ist eher umgekehrt. Wir sind den Affen ähnlicher als sie uns.
Der Schönbrunner Tiergarten.
Es ist der älteste Tiergarten der Welt. Franz Stephan von Lothringen, Gatte der grossen Maria Theresia, liess ihn im 18. Jahrhundert erbauen. Um einen Pavillon, in dem die Kaiserin gern mit ihrem Gemahl zu frühstücken pflegte, stehen dreizehn Gehege. Die Herrscher umgeben von den Tieren, ein Volk aus Affen, Raubtieren, Kamelen, Kühen, Gazellen und Elefanten.
Eine fleissige Biene sticht eine hartnäckige Bulldogge in die Schnauze, die sofort nach einem geschwätzigen Eichelhäher schnappt, der sich gerade neben einer diebischen Elster auf deren Rücken setzen will, nachdem diese ihrerseits von einer klugen Eule aus einen Turm gejagt worden ist, nachdem ein dummer Esel auf eine flinke Maus gestiegen ist und diese für eine fipsende Fledermaus gehalten hat, während diese eine schwache Fliege geschnappt hat, nachdem ein listiger Fuchs einer eingebildeten Gans an den Kragen wollte, die aber so zu schnattern begann, dass der räuberische Habicht vom furchtsamen Hasen abliess, der mit einer gluckenden Henne einen Disput über die dummen Menschen und klugen Tiere führte, wobei ein treuer Schäferhund Obacht gab, der seinerseits sehrwohl einen ängstlichen Hasen von geilen Kaninchen zu unterscheiden weiss, so wie er auch ein unschuldiges Lamm und eine falsche Katze auseinanderkennt, die ihrerseits weiss, dass ihr grosser Verwandter, der würdige Löwe kein wilder Tiger ist und das dumme Schaf mit dem stolzen Pfau oder dem krächzenden Raben nichts gemein hat, so wenig wie das schmutzige Schwein eben auch kein wilder Stier und ein frecher Spatz kein denkopfindensandsteckender Strauss oder eine verliebte Turteltaube ist oder eine flinke Maus kein kurzsichtiger Maulwurf, ein brummiger Bär kein röhrender Hirsch, ein giftige Kreuzotter keine blinde Schleiche und der äffische Mensch kein kluger Affe und der kluge Menschenaffe kein dummer Mensch.
Ich stehe vor dem Affengehege.
Nach einer Weile bemerke ich, dass die kleinen Affenmenschen in dauernder Unruhe sind, dass sie alles beobachten und auf alles achten, was in ihrer Nähe geschieht, dass sie ununterbrochen auf ihre Umwelt achten, als ob sie fürchteten, dass aus ihr eine Gefahr drohen könnte. Trotz des unglaublichen Schutzes, den der Käfig ihnen bietet. In Freiheit hätten sie zu Recht Furcht vor ihrer Umgebung. Hier aber?
Die kleinen Affenmenschen leben tatsächlich in einer dauernden Weltangst und gleichzeitig bestimmt durch eine Gier nach den Dingen, den Geschehnissen, die es in ihrer Welt gibt und die ihnen erscheinen. Ihre unbezähmbare Lust nach dem was geschieht, zum Beispiel: die in Kleider steckenden grossen Brüder ausserhalb der Gitter zu hänseln. Die unglaubliche Begierde nach Erleben sitzt in ihnen so hemmungslos wie der Schreck, die Furcht, die Angst, die sie in Freiheit empfinden würden. Das Welttheater der Affen.
Da wie dort sind es Ereignisse ihrer Welt von den sie bestimmt werden und die sie wie Marionetten hin und her bewegen. Sie beherrschen ihr Dasein nicht, sie leben nicht aus sich selbst, sondern sind von der Aufmerksamkeit beherrscht, was ausserhalb von ihnen vorgeht, auf das Andere, nicht auf sich selbst achtend.
In einer gusseisernen Kuppel zuhause, in Frieden gelassen, mit Futter und Schlafstelle, beschützt, träumen sie vom Gegenteil: der Gefahr, dem Tod. Sie warten auf einen, der die Eisenstangen wegräumt, einen, der ihnen Freiheit und Tod bringt. Ja, es hat etwas mit Religion, mit einem Messias zu tun. Jesus hat den Menschen auch die Freiheit versprochen und nicht selten den Tod gebracht. Für ein bisschen Leben nach dem Tod ?
Wenn ich also behaupte, dass die kleinen Affenmenschen nicht aus sich selbst leben, sondern von dem bestimmt und tyrannisiert werden, was ausserhalb von ihnen geschieht, kann ich auch annehmen, dass sie ausser-sich-sind, selbstentfremdet.
Wir Menschen befindet uns in einer ähnlichen Lage wie die Tiere als Gefangene der Umwelt, umgeben von Dingen, die uns Schrecken einflössen, von Dingen, die uns erregen, befriedigen oder reizen und von Dingen, die uns unerbittlich ein Leben lang beschäftigen. Der Mensch kann zwar von Zeit zu Zeit seine unmittelbare Beschäftigung mit den Dingen aufgeben, er kann seine Umwelt sein lassen und sich in eine andere begeben, er kann mit seiner Möglichkeit zu denken, der Welt den Rücken kehren und sich in sich selbst versenken, zu sich zurückkehren. Aber die Welt ist die totale Äusserlichkeit, das absolute Aussen und ausserhalb dieses Aussen ist das Innen, das Selbst, eine Sammlung von Ideen und Gedanken. Und diese Ideen und Gedanken befinden sich nur in den Köpfen und in keiner Stelle der Welt, die uns umgibt. Ausserhalb der Welt, die Ichs.
Und diese, die Voraussetzung aller Ideen und Gedanken, ist doch unsere charakteristische Eigenschaft, die uns von den anderen Wesen so wesentlich unterscheidet ? Wir sind die vernunftbegabten Tiere ? Nach Descartes müssten wir aber, wenn wir die denkenden Ichs sind über unser Dasein, unsere Existenz so sicher sein wie ein Affe oder ein Tiger oder ein kleiner dummer Hund ?
Das ist der Irrtum. Wir sind äusserst unsicher. Das Denken hat uns unsicher gemacht. Die Ichs machten es. Im Unterschied zu den anderen Tieren können wir uns nie sicher sein, dass wir tatsächlich Menschen sind wie eben ein Löwe ein Löwe ist.
Tiere sind sich sicher aus der Tatsache, dass sie nicht darüber nachdenken.
Wir aber ?

Rien ne m`est sûr que la chose incertaine.
1) Nichts ist mir sicher als das Unsichere und das Ungewisse.


4.

Um mich abzulenken, genieße ich nicht ohne Genuß McIntosh' schweißnassen Angstausbrüche, die man zwar nicht sehen kann, aber ich weiß, daß er sie hat. Ein wenig davon sieht man an seiner hastigen Art zu trinken und zu rauchen. Wenn einer dran ist, ist er es. Aber es ist mein Geld. Es geht um eine Wette. Und ich kassiere. Heute. Morgen. Nächste Woche. Als sie zu mir blicken, nicke ich und gebe ihnen zu verstehen, daß ich nach dem Essen bereit wäre, einen Schlagabtausch oder ein lautstarkes Wortgefecht zu veranstalten. Muswell lächelt so sanft wie Henker lächeln, bevor sie einem den Strick um den Hals legen. Ganz egal wie unangenehm meine Situation auch ist, ich lasse es vorerst einmal. Und es ist dicke Luft, sehr dicke Luft. Ich habe betrogen, getrickst oder zumindest war es ihnen klar, daß ich etwas getrieben hatte, was ihnen nicht passen konnte. Ich habe den Schuldschein in der Tasche. Gut, ich habe mich gewehrt. Wenn überhaupt, hatte ich nur einen über den Tisch gezogen. Mehr nicht. Wirklich. Mehr nicht. Außerdem habe ich das Glück hier zu sitzen und nicht im Casablanca oder sonst wo. Die Bar ist ein beliebtes Lokal, wo sich jedermann herumtreibt, eben eine Bar, die es einfach nicht verdient, am frühen Abend durch eine Schlägerei den gewohnten Alltag und das Geschäft zu vermiesen. Ja, es geht ohne Zweifel um Geld. Viel Geld. In der grauen Tasche ist es. Eine Menge Geld; dreihundert Tausender. Und sie gehören mir. Ich könnte hinübergehen zu Joey und ihm klar machen, daß wir uns am Abend bei mir treffen. Das Geld ist meines. Aber ich liebe dieses Spiel, so wie es jetzt abläuft. Schon weil es keiner erwartet. Vor allem Muswell und Dutch nicht. Die leben doch nur von der Annahme, wir hätten alle Angst.
Die beiden blicken durch das Lokal, als hätten sie kein Interesse mehr an mir. Ich sitze am Rande ihres Blickfeldes und - wie es scheint - haben sie es nicht sehr eilig, ihre Pflicht zu erfüllen. Sie haben Gesichter wie zwei die auf ein Taxi zulange gewartet hatten. So schauen alle Männer auf der Welt aus, wenn sie etwas zu erledigen haben. Man kann sie nicht übersehen, als hätten sie durch ihre Pflicht und ihr Gefühl ein Stigma auf der Stirne. Ich meine, einer, der mit derlei Typen einmal zu tun gehabt hatte, kennt dieses Zeichen. Es gehörte zu ihrem Job, Angst zu machen und wenn es einen endlich einmal erwischt, keinem täte es leid. Vielleicht würde es McIntosh leid tun, wenn es Joey erwischt. Weil damit sein Geldgeber von der Bildfläche verschwunden wäre.

Es hat auch mit Gefühlen zu tun. Mit dem Ichgefühl. Tiere haben - wenn überhaupt - Instinkte oder sie schmeicheln, täuschen Gefühle vor, wenn sie etwas wollen.
Haben wir nur Gefühle, wenn wir etwas wollen, wenn wir etwas von der Welt verlangen? Nicht aus- schliesslich. Gefühle sind etwas Wirkliches. Eigentlich sind sie unwiderstehlich. Oder unausstehlich. Manchmal.
Mehr als die totale Äusserlichkeiten der Welt, erzwingen die Gefühle so etwas wie Zuwendung oder Abneigung. Das Gefährliche an der Angst ist nicht das Gefühl, die Furcht, die sie auslöst, sondern die Aufmerksamkeit, die sie von uns verlangt und zwar eine vollständige Aufmerksamkeit. Alles, jedes Detail, wird von ihr besetzt. Eine angstbestimmte Aufmerksamkeit, die keine Entspannung mehr zulässt.
Oder: Das Bedenkliche an der Liebe ist nicht das Gefühl, das sie auslöst, sondern die Aufmerksamkeit, die sie uns abverlangt und zwar eine vollständige Aufmerksamkeit. Sie will unsere ganze Konzentration. Eine liebestolle Aufmerksamkeit, die kein Ruhen mehr zulässt.
Alles, was Aufmerksamkeit erregt, ist wirklich, alles, was uns gefangenhält, ist für uns überwältigend. Es gibt nichts Wirklicheres als das, was uns beherrscht, was uns nicht aus dem Sinn geht.
Es geht aber nur dem nicht aus dem Sinn, der eben das Gefühl in sich hat. Keinem anderen. Es ist innen, in einem.
Von aussen, von der Warte der anderen, gibt es höchstens unser Verhalten, die Gebärden, Gesten, die Worte, die wir von uns geben, die Stimmungen, denen wir unterworfen sind. In unserer naiven Wahrnehmung unterliegen wir einem einfachen Analogieschluß, der behauptet, dass die Stimmung jeder erkennt, weil er das Äussere wahrnimmt und die Worte, die wir hören, uns die Wahrheit finden lassen. Das Innere drückt sich aber nur begrenzt und dann undeutlich und deutbar im Äusseren aus. In vielen Fällen benehmen wir Menschentiere uns wie Hund und Katze: wir zeigen immer das falsche Verhalten oder fassen das richtige Verhalten falsch auf. Wenn eine Katze mit dem Schwanz wedelt, bedeutet das Krieg, wenn ein Hund es tut, ist es Freundschaft. Krieg und Zuneigung. Ähnlich verhält sich der Mensch. Mit oder ohne Absicht. Von der Macht der Gefühle, die uns beherrscht, bleibt im äusseren Tun wenig über. Fast nichts, wenn wir es nicht sagen.
Gefühle haben eine sehr spezielle Wirklichkeit. Eine eigene. Und eine andere als Empfindungen.
Furcht treibt uns Tränen in die Augen wie Zorn, Liebe lässt den Puls rasen, die Wangen rot werden wie die Begeisterung, wenn die favorisierte Fussballmannschaft ein Tor geschossen hat. Furcht, Zorn, Liebe und Begeisterung treten als körperliche Reaktionen auf und werden vorschnell vorher oder nachher gedeutet, interpretiert und nicht zuletzt erzeugt. Als würde ein kleiner Kapitän in uns sagen: Freund, öffne die Schleusen für das Blut oder die Kanäle des Tränenflusses. Und man sieht die Tränen fliessen. Und spürt das Blut in den Adern.
Für andere und oft auch für uns selbst tauchen nur körperlichen Folgen auf. Man weint oft nicht, weil man traurig ist, sondern man ist auch traurig, weil man weint. Man ballt die Faust nicht, weil man zornig ist, sondern man ist zornig, weil man die Faust geballt hat.
Vielleicht.
Das Vorkommen von Empfindungen ist an das Bewusstsein gebunden.
Das Bewusstsein selbst ist unbarmherzig an die Gegenwart gebunden. Genau genommen ist es die Geistesgegenwart. Das Bewusstsein ist nur im Jetzt da. Alles, was in ihm auftaucht muss vorhanden sein, tatsächlich vorhanden, einerseits für das bewusste Sein und andererseits in dem Moment, wo es wirksam werden soll. Nach innen und aussen.
Nur im Jetzt, in dem Moment gibt es Empfindung, Wahrnehmen, Fühlen oder Vorstellen.

Angst, Liebe, Trauer, Hass, Eifersucht, Reue und Rachlust, Freude und Liebesschmerz sind gerichtete Regungen. Sie haben etwas ausser sich. Dieses Ding kann vorhanden sein oder in einer zeitlichen Tiefe, irgendwo in der Vergangenheit, irgendwo in der Zukunft. Der Tod. Erst, wenn die Gegenwart das Vorhandensein von Vergangenheit oder Zukunft akzeptiert, entfaltet sich die Gefühlswelt.

In der Gegenwart von Gefühlen zu leben, heisst wie auf den Wogen von Wellen zu reiten, die durch das Meer der Gefühle ziehen. Wir sind gefangen auf der Woge, die uns erfasst hat, können seine Bewegung weder verlangsamen noch beschleunigen. Wir können uns nur entziehen, wenn wir die Gefühle in unserem Bewusstsein überhaupt unterbinden.
Ich stehe vor einem Grab.
Meine Hand streift über den Efeu.
Pierre de Rose.
Genau genommen geht in mir etwas Ungeheuerliches vor. Ich entziehe mich dem Anspruch des Todes zugunsten von rigorosen Abstraktionen über die Gefühlswelt.
Man könnte einwenden, das ist einer der üblichen Ausflüchte, Tricks, Überlebenstechniken des Menschen. Irrtum.
Im Unterschied zum Tod, an den ich hier am Grab erinnert werde, sind meine Gedanken Wirklichkeit. Die Gefühlswelt ist nicht weniger real als das geglaubte Begrabensein von Pierre de Rose.
Würde ich mich mit dem Namen auf dem Grabstein zufrieden geben, wäre der Name nichts anderes als ein Surrogat für den Verlust einer Welt oder einer gemeinsamen Geschichte mit Pierre. So aber löst es etwas in mir aus, das zumindest mir, dem Lebenden oder dem Überlebenden wichtig ist. Und der Lebende hat recht.
Mich interessiert an dem Grabstein zunächst das, zu dem ich keinen direkten Zugang habe. Mich interessieren Gefühle, Empfindungen, Vorstellungen, Erinnerungen. Das Bild Pierre de Roses interessiert mich nur als Rest einer Erinnerung an mein Leben. Ich beachte dieses Bild nur aus dem Grund, weil ich dadurch Zugang zu meiner Gefühlswelt habe. Nur durch den Analogieschluß aus dem von mir erlebten Zusammenhang zu einem Namen und einer Person in meiner Geschichte und meinem eigene Verhalten und Denken finde ich einen Weg zu meinen Gefühlen. Dadurch kann ich mir überhaupt so etwas wie ein Gefühl vorstellen und es aus dieser Vorstellung wirksam werden lassen. Pierre de Rose, ein Toter. Ich, ein Lebender mit irgendeinem Namen. Krakauer sowie Lindner, wie Lipsky oder Müller. Einer mit Gefühlen.
Eben dieses Gefühl ist das Objekt meiner Begierde. Nichts beschäftigt mich mehr als meine Gefühle und auch die Gefühle, die ich glaube, dass andere sie in mir vermuten.


Zum Beispiel. Die Sprache, ein Gefühl:

Wiener Melange
a bisserl bitter
und a bisserl zucker
dann schluckt das bittere
der ärmste schlucker a tröpferl dummheit
und a schipperl lug
a körnderl wahrheit is
da mehr als gnug.
a bisserl echt und recht viel ersatz
ja, das rezept is a wahrer schatz.
es bleibt in den köpfen,
ob d`welt auch verweserlt:
`s wird nix verbröserlt.2) Dieses Gedicht sagt mehr über meinen Aufenthaltsort aus als sein Witz ermöglicht, denkt Krakauer. Ja, die Sprache. Was ist sie überhaupt ?
Die Sprache ist ein Gegenstand des Gebrauchs, auch ein Werkzeug ? Oder sie ist überhaupt kein Gegenstand, sie ist nichts anderes als ihr Gebrauch. Sprache ist Sprachgebrauch, meinte Fritz Mauthner, der Prager Sprachforscher.
Oder: Hinter einem jeden Ausdruck für etwas Abstraktes steht ein Bild, und in jedem Bild steckt ein Wortspiel. So schaffen sich die Menschen immer wieder ihren Ausdruck für das Dasein und eine zweite erdichtete Welt neben der Welt der Natur.
Das ist es doch, was ich meine ?
Offenbar ist dem Verdacht, dass Sprache eine eigene Wirklichkeit schafft, nur dann zu begegnen, wenn Reden nicht als Wahrlügen missbraucht wird, sondern wenn seine Beziehung auf die äussere Welt an ihr selber etwas Wesentliches, etwas vom Grund ihrer Qualität aufdeckt.
Ein schwerer Gedanke.
Nun: so wenig die Wogen - und Wellenkreuzungen des Meeres zu überschauen sind, die nie aus sich selbst entstehen, immer von irgendwoher kommen, sich verstärken und abschwächen, und zusammen das Meer sind, ebensowenig kann der Mensch die zahllosen Wogen- und Wellenkreuzungen des Sprachgebrauchs überschauen, die zusammen die Kultur darstellen. Masken.
Oder irgendwie ?
Die Machart der Sprache bedingt, dass wir uns täuschen. Wir können uns täuschen wie etwas und wann es geschehen ist. Weil beides der Sprache und der Vergesslichkeit unterworfen ist, sind die Grenzen zwischen Erinnerung und tatsächlicher Täuschung oder Glorifizierung nicht mehr zu ziehen. Nicht nur, dass Bewusstseinszustände von aussen, von einem anderen nicht erfasst werden können, auch Gefühle neigen von sich aus dazu, alles Vergangene zu verfälschen.
Es gibt zwar nichts Wirklicheres als den Juckreiz oder die Übelkeit nach einigen Gläsern Schnaps, in dem Moment, wo sie uns terrorisieren. Kaum ist der Reiz und die Übelkeit weg, kommen Zweifel über ihre Existenz auf oder wir bilden eine verfälschende Anekdote daraus.
Es war eine Sulfonamidallergie. Mein ganzer Körper war übersät von kleinen, rot gefärbten Pusteln. Es juckte, Du kannst Dir das nicht vorstellen. Ich kratzte mich, bis ich blutverschmiert war. Am ganzen Körper. Es hat Tage gedauert.
Ja, wir tranken viel, sehr viel. Irgendetwas. Gin. Oder Rum. Meyer`s. Drei, vier, fünf Flaschen. Dann lehnten wir uns über die Reeling. Na, Du kannst Dir denken wie alles herauskam. Eine Explosion. Gegen den Wind. Ach. Und dann, eine kalte Dusche. Na, Du weisst ja, wie das ist. Der Tod im Suff ist nicht der schlechteste. Seit damals trinke ich nicht mehr. Zumindest keinen Meyer`s. Oder Gin. Es muss schon ein ganz Klarer sein. Wenn überhaupt.
Solange ich einen Rausch habe, wäre die Frage, ob die Empfindung tatsächlich vorhanden ist, eigenartig, wenn nicht komisch. Und wenn der Andere, dem es genauso ginge wie mir, mich fragen würde, wäre die Frage zynisch. Alles klar, Alter ?
Halt doch Deinen Mund.
Empfindungen existieren nur in der Perspektive der ersten Person. In mir, meinem Ego. Alles andere ist eine Chimäre, die man glaubt oder nicht.
Unter Umständen ist das phänomenale Bewusstsein ein Irrtum. Oder das, was wir unter Selbst, Ich oder dem Jetzt verstehen.
Wir alle sind Geistesgegenwarten sagte ein Philosoph. Und es gibt soviel Geistesgegenwarten wie es Menschen gibt. Deren Sein ist etwas anderes als das Dasein von Dingen oder Gegenständen ohne Eigenleben. Es ist das Sein im Sinne dessen, dass man als empfindende Individualität selber ist. Das Ego ist, weil wir es denken. Ego ist.
Wir können leicht fragen: Was heisst es, ein Hund zu sein ? Nachdem wir nicht sicher sein können, warum wir Menschen sind. Die Frage nach dem Wesen. Nach dem Wesen der Dinge. Nach dem Wesen der Individuen. Nach dem Wesen der Menschheit. Nach dem Wesen der Gefühle. Der grossen und der kleinen.
Alles ungewohnte ungewöhnlich. Die Klarheit ist eine Lüge und jede Überraschung macht konfus.
Die Sprache ist dazu imstande, das Einfache und Banale zu erfassen. Sicher. Und das Banale ist das, was wir so wie so wahrnehmen. Es ist das Selbstverständliche mit seinem Schattendasein. Es ist uns geheuer im Unterschied zu den Gefühlen, die uns nicht geheuer, gleichsam ungeheuer sind. Der Vorrat von Redewendungen trifft bewusst nie das Richtige, sondern löst nicht selten sprachlos Gefühle aus. Die Begegnung mit dem Ungeheuerlichen verschlägt uns die Sprache.
Gefühle zu erzeugen, verdunkelt den Sinn und kommt mehr oder weniger dem Verlust der Sprache gleich. Verstünde man das Gefühl, wäre das Ungeheuerliche sagbar und geheuer.
Gefühlvoll zu bleiben, bedingt die Sprachlosigkeit, Sprache zu werden, bedingt den Gefühlsverlust.
Sprache im eigentlichen Verstand hat darum nur der, der mit ihr ein falsches Spiel treibt, indem er von Gefühlen spricht. Er steht auf einem riesigen Berg von Gefühlen und hält Reden über alles und nichts, selten über das, auf dem er steht.


Dialog zwischen Kopf und Herz (1)

Der Kopf: Hast Du es gehört, Herz ?
Das Herz: Was soll ich gehört haben, Kopf ?
Der Kopf: Dass es zwischen uns Probleme geben soll.
Das Herz: Probleme, echte Probleme ?
Der Kopf: Eine Spannung. Verstand und Gefühl. Du verstehst mich doch, liebes Herz ?
Das Herz: Du machst mich kopflos.
Der Kopf : Ich ? Das wäre herzlos, Herzchen.
Das Herz: Die Sprache liegt unterhalb.
Der Kopf: Wo ?
Das Herz: Wir liegen unterhalb der Sprache.
Der Kopf: Du meinst: sind.
Das Herz: Sind wir, Köpfchen ?
Der Kopf: Ja, Herzchen.
Das Herz: Deine Freundlichkeit ist rührend.
Der Kopf: So bin ich eben.
Das Herz: Du lügst. Wie immer lügst du.
Der Kopf: Ach, Lüge, was ist das ? Ich bin doch immer der Wahrheit auf der Spur.
Das Herz: Und ich den Gefühlen, nicht ?
Der Kopf: Reden wir überhaupt miteinander ?
Das Herz: So richtig nicht.
Der Kopf: Wir sind doch einsam, Herzchen, nicht.
Das Herz: Ich schon. Du ?
Der Kopf: Der Einsame hat keine Sprache.
Das Herz: Eine Sprache, die nur einer allein spräche, ist keine.
Der Kopf: Es gibt das Doppelich.
Das Herz: Eine Ausrede, nicht ?
Der Kopf: Ach, Herzchen.
Das Herz: Du bist ein Wirrkopf, mein Lieber.
Der Kopf: Ein Wirrherz kann ich nicht sein.
Das Herz: Ein Wirrkopf ist einer, der seinem Herzen folgt. Ein Starrkopf einer, der gegen die Vernunft ist. Und ein Dummherz gibt es nicht. Auch kein Klugherz. Dumm kann nur einer sein, der klug war oder sein wird. Oder umgekehrt.
Der Kopf: Das Meiste hat der Kluge doch mit dem Dummen gemeinsam.
Herz: Was, Du Dummkopf ?
Kopf: Wir ignorieren doch jedes Gefühl, liebes Herz, wenn es irgendwie geht ?
Das Herz: Offenbar ist es sehr schwierig, ein Kopf zu sein ?
Der Kopf: Natürlich ist ein einfältiges Gefühl viel einfacher.
Das Herz: Das einfältige Herz irrt nicht.
Der Kopf: Hältst Du das für einen Vorteil ? Das Herz: Sicher.
Der Kopf: Ich nicht.
Das Herz: Ich fühle, dass das, was Du sagst, grundfalsch ist.
Der Kopf: Fühlen, Fühlen. Kannst Du nichts anderes empfinden ? Ich bin es doch, der fühlt, mein Herz.
Das Herz: Du? Wenn es so wäre, gäbe es das Wort herzlos nicht, Dummkopf.
Der Kopf: Ein Gefühl, das nur Gefühl wäre, gibt es nicht. Man muss denken, um zu fühlen. Erst durch den Gedanken wird das Gefühl zu dem, was es ist. Ein Gefühl ohne Gedanken, ein reines Gefühl wäre ein Gefühl ohne Erinnerung, ein Gefühl das nichts von sich weiss. Man hat genauso viel Gefühl wie man Sprache hat. Das Herz: Du bist und bleibst ein Dummkopf. L`esprit est toujour la dupe du coeur. Der Geist ist immer der Betrogene des Herzens.
Der Kopf: Wahrheit beweist sich in der Tat, Herzchen.
Das Herz: Du peinigst die Sprache, bis sie nur mehr Fratzen schneidet, Wirrkopf.
Der Kopf: Herzchen, Du, mein Lieber, bist eine Erfindung von mir. Nicht mehr und nicht weniger. Keine meiner besten. Leider.
Das Herz: Welcher Irrtum. Ohne mich gäbe es keinen Kopf. Das Gefühl, das blosse Gefühl schreibt weder ein Gedicht, noch eine Seite eines Briefes. Es ist der Intellekt, der die Folgerung zieht. Er urteilt, er entscheidet.
Das Herz: Der Intellekt, der Intellekt. Soll ich Dir sagen, was er ist, Dein Intellekt, Du Wirrkopf ?
Der Kopf: Ja, Herzchen, sag es doch.
Das Herz: Ein kleiner Angestellter, der sich einbildet Direktor zu sein.
Der Kopf: Und wer ist der Direktor ?
Das Herz: Du bildest Dir etwas auf Dein Denken ein. Auf das Gehirn, das immer nur denkt. Hättest Du überhaupt etwas zu denken, wenn ich nicht wäre ?
Der Kopf: Das Gefühl begnügt sich mit Deklamationen. L`expression d`un sentiment est tou- jour absurde, sagt Paul Valery in Monsieur Teste.
Das Herz: Na und ?
Der Kopf: Na, eben. Das Herz: Wie meinst Du das ?
Der Kopf: So, Herzchen.
Das Herz: Kleiner Wirrkopf.

Mit meinem Gefühl, das bisweilen gross ist, denkt Krakauer, meine ich all das, was man unter Schaudern, Schmachten, Gruseln, Beklemmen, Nagen, Bohren, Beissen, Glühen, Prickeln, Erzittern, Erschüttern versteht. Grosse Gefühle. Unendliche Gefühle. Ganz gross.
Ich gestehe, es ist als möchte ich mich vor etwas zurückhalten, von dem ich weiss, dass es im Unbekannten landen könnte. Eine Erklärung über Gefühle.
Ich laufe hinter Schatten her, vorbei an hohen Mauern, über die ich keinen Blick werfen kann.
Tatsächlich ist nur der bewusste Verweis auf einen ehemaligen oder zukünftigen Gemütszustand. Einige Augenblicke des Erlebens. Zum Beispiel, Frauen.


5.

Die Damentoilette verwirrt die Phantasie, sagt Louise und richtet sich die Bluse zurecht.
Sie steht vor dem Spiegel im Bad und schminkt sich.
Dora steht am Fenster und wartet.
Welche Phantasie ruft Dora, die der Männer, Louise ?
Sicher, die der Männer, was sonst ?
Was heißt das ?
Ich meine, wie eine Frau sich anzieht, macht die Männer phantasievoll.
Oder wie sie sich auszieht, Louise ?
Natürlich auch, Dora. Und es lenkt sie ab.
Wovon ?
Von dem, was wir vorhaben, Dora. Am meisten Phantasie wird von einem Mann gefordert, wenn Du nackt neben ihm im Bett liegst.
Bist Du endlich fertig, Louise ?
Sofort. Ein Lidschatten, ein bißchen Wangenrot, und die Lippen kirschfarbig, Chanel Nr. 5 oder Nr. 19 ?
Sie zupft an ihrem Kleid und geht zu Dora.
Na, ich schaue doch entzückend aus, Dora, nicht ?
Stell Dir vor, Du bist ein Mann. Was würdest Du zu mir sagen ? Haben Sie Feuer, junge Frau oder besser Jungfrau ?
Du schaust nicht aus wie eine Nutte, Louise.
Nein, wie ein Call-girl.
Du bist eine Hexe.
Eine Hexe ist ein häßliches, altes Weib, das mit dem Teufel im Bunde steht.
Oder eine schöne, anziehende, attraktive Frau, die an Verruchtheit dem Teufel um vieles voraus ist. Das bist Du ja.
Und du ?
Louise, Du bist wunderschön.
Danke, Dora, für die Blumen.
Gehen wir endlich ?
Wohin.
Wir schauen, was die Männer machen.
Wie zwei hochgeladene Engel schweben Louise und Dora aus der Wohnung, die Treppen hinunter, auf die Straße.

Ich sehe mich aber veranlasst, zwischen Erfindung und Tatsachen zu unterscheiden. Ich habe einfach das simple Bedürfnis, den Verlauf meines Lebens für unabhängig von dem zu halten, was mein Geist ausmacht oder deutet. Und wenn ich bereit bin, die Aussenwelt mit meinen eigenartigen Sinnen aufzunehmen und wiederzuspiegeln, so zweifle ich doch daran, dass dieses Theater nur für mich alleine stattfinden sollte, dass die Welt sozusagen nur bestrebt ist, sich meinen Vorstellungen anzupassen, meinem Ego.
Dieses Dilemma wird noch erschwert, dass die Vorstellung von Welt nur meiner Phantasie angehört, genauso wie meine Gefühlswelt nur mir, ausschliesslich mir gehört und dass in Anbetracht der Eigenwilligkeit, mit der sich alles entwickelt, keinerlei Wahrscheinlichkeit darüber besteht, dass diese mit der Wirklichkeit anderer übereinstimmt.
Und das obwohl mein Geist von einem eigenartigen Glücksgefühl und einer ebensolchen Unruhe überschwemmt wird. Vielleicht ist es das Gefühl, dass aussagt, dass alle diese Gedankengänge und Phantastereien nur mir gehören und dass kein anderer imstande ist, sie hervorzubringen.
Wenn es sich um einen Irrtum handelt, so bin ich bereit, das, was ich von mir gebe, als Lüge zu bezeichnen. Aber man beweise mir einmal, dass es so ist.
Handelt es sich aber um echte Gefühle und Gedanken über Gefühle, so fordere ich alle Mitwisser auf, sich dieselben oder eigenartige eigene Gedanken über die Gefühlswelt zu machen.
Der Geist ist nur solange wachsam und von einem Verlangen nach Erkenntnis beseelt, solange ein unerfüllter Rest des Geheimnisvollen noch in ihm verbleibt.
Es scheint doch am einfachsten, Gefühle verständlich zu machen, wenn man etwas erzählt, das die Assoziation zu Gefühlen hervorruft; eine Liebesgeschichte, ein Abenteuer, eine Anekdote, ein Erlebnis, eine Erfindung, etwas, das mit Tod und Leben im gleichen Masse zu tun hat ?


Ein Ungeheuer.

Es ist häufig oder gar allgegenwärtig, dass die Menschen sich über das Thema Hässlichkeit einig werden. Und doch waren sie sich nicht einig da- rüber, dass Laura Van Arkel hässlich ist. Sie bestand ganz aus spiegelfreiem Glas oder - um es genauer zu beschreiben - sie war gläsern, im Gesicht, auf dem Rücken, auf der Brust, an den Armen und Beinen. Sie hatte Glasaugen, starke, bewegliche Kugeln, in denen man - wenn das Licht günstig oder die Dämmerung hereingebrochen war, etwas vom Himmel sah.
Im Sonnenlicht war sie durchsichtig, sodass die Menschen in Gefahr waren sie niederzurennen. Sahen sie sie, wagten sie zwar sich ihr zu nähern, vorsichtig, schliesslich hätte sie zerbrechen können. Sie machte Menschen unsicher, obwohl sie ihr in jeder Beziehung überlegen waren.
Im Wasser schien es, löste sie sich fast auf oder anders gesagt: sie bestand gleichsam aus erstarrtem Wasser. So wie Wasser gefrorene Luft ist, war sie, Laura Van Arkel gefrorenes Wasser. Sie schwebte in ihm wie ein Blatt über den Wellen. Wassertropfen und die Gischt der Wogen glitten über sie und blitzten auf ihrer Oberfläche. Man meinte, man sähe einen Dyonisos in gläserner Gestalt.
Sie war sicher eine Gottheit, weil sie kein Mensch war, doch aber auch nicht das Ebenbild. Oder vielleicht doch ? Nein. Sie war so hässlich wie alles Fremde hässlich ist. Oder so schön. Vor allem war sie eigenartig.
In ihrer Existenz spiegelte sich das Schöne und das Hässliche des menschlichen Wesens wider.
Nein, hässlich war sie nicht. Fremd war sie. Der Begriff der Hässlichkeit, der ja nur einen Zustand beschreibt, etwas Inneres, relativierte sie. Sie war so hässlich wie Bäume, Katastrophen, Stürme, Unwetter, Tiere, wenn man gezwungen ist, sie zu ertragen.
Die Hässlichkeit ist etwas Sterbliches. Unsterblich ist das Schöne.
Laura Van Arkel war unantastbar. Und doch hatte sie mit uns, mit den Menschen zu tun, mögen sie elend sein oder wunderbar. Ihr Wert war schon wunder- bar.
Laura Van Arkel schwieg. Sie redete nie. Zu keinem, zu nichts. Aber man konnte sich vorstellen, dass sie redete. Immer, über alles. Sie klang durch die Welt wie die meisten menschlichen Wesen überhaupt. Sprachlos.

Können Lügen Gefühle erzeugen ?
Wie Wunder? Oder Erfindungen?
War sie ein Ungeheuer oder ist diese Beschreibung tatsächlich ungeheuerlich ?
Ganz geheuer ist sie nicht. Was aber ist uns denn schon geheuer ? Das, was wir durch und durch kennen ? Man muss etwas ungeheuer genau kennen, damit es einem geheuer ist.3) Van Arkelsche Assoziationsformel. Empirisch gefundene Formel für den Verlauf der Molekularpolarisation in Flüssigkeiten. Es ergeben sich daraus Auf- schlüsse über die Assoziation.4) Es ist ein Spiel, um etwas zu erklären oder irgendwen dazu zu verführen, sich Gedanken zu machen.Grosse Gefühle.Innuit, Menschenwesen, Eskimos.
die worte bewirken gefühle
die worte erwecken das schweigen
die worte verleihen die richtige
einsicht in alle die dinge
die worte entlehnen die lüge.5) Der Reiz der Wörter, auch in Worte verwandelt, ist anscheinend stark genug, um den zahllosen sprach- lichen Gebärden und Gesten zu widerstehen. Oder trifft am Ende gar das Gegenteil zu ? Ist der Reiz der Wörter überhaupt über die Gesten und Gebärden entstanden ? Und die Gefühle sind Anhängsel der Sprache, sozusagen die späten Nachfahren der Instinkte ?
Grosse Gefühle sind, wenn sich das Herz sich öffnet und der Kopf in einem Totstellreflex ruht.
Krakauer denkt an ein Bild an der Wand seines Zimmers. Ein Ölbild. Ein Mann steht vor einer Bücherwand. Das heisst, ein Bild eines Mannes spiegelt sich hinter einer Bücherwand oder genau genommen im Glas des Bildes spiegelt sich eine Wand mit Büchern. Der Mann steht mit dem Rücken zum Betrachter. Er trägt ein dunkelblaues Sakko. Über seine Schulter ist ein roter Schal geworfen. Seine Stellung ist leicht nach vorne gebeugt.
Das Bild löst Gefühle aus. Grosse und kleine. Krakauer erinnert sich. Es war in einer grossen Stadt im Norden. Dazwischen liegen 8 Jahre. Es ist viel geschehen. Doch das Gefühl ist geblieben. Es schwebt im Raum, in dem das Bild hängt. Es ist der Arbeitsraum.
Es geht ihm bei dem Bild so, wie dem, der sich vergebens anstrengt, ein Stück aus der Vergangenheit zur Gegenwart zu machen.
Ein Windstoss fährt ihm durch die Haare.

Nur das Gefühl bleibt. Und die Wirklichkeit verschwindet immer mehr, je mehr Zeit vergangen ist.
Le vent se lève....Il faut tenter de vivre. Der Wind erhebt sich...man muss versuchen, zu leben !6)

Krakauer verlässt den Friedhof.


1.José Ortega Y Gasset, Signale unserer Zeit

2.Jura Soyfer, Gesamtwerk

3.nach: J. Rodolfo Wilcock, Das Buch der Monster

4.Kurt G. Wagner, Autoren-Namen als chemische Begriffe

5. canti esquimesi; Reinhold Grimm, in: Der Reiz der Wörter

6.Paul Valery, Le Cimeti∂re marin



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