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II. Ein Erlebnis

Krakauer lebt seit zwei Jahren in dieser Stadt, die Hauptstadt des Landes, in dem er geboren ist.
Nichts ist einem fremder als das bekannte Vergessene, denkt er.
Fast zwanzig Jahre hat er im Ausland gelebt, Eindrücke wahrgenommen, Kultur und Menschen kennengelernt, Demokratie und ihr Gegenteil erfahren, alles Phänomene, die sich mehr oder weniger von dem unterscheiden, was ihm dreissig Jahre lang in Österreich zugefallen war; die eigene Mentalität und einigermassen die deutsche Sprache mit einigen, wenigen Abweichungen von dem, was der Duden als hochdeutsch vorschreibt. Er fragt sich mittlerweile, wo man dieses Hochdeutsch spricht.
Er war stets als Österreicher erkannt worden. Ein Einzelgänger, der durch sein Äusseres und sein Gehabe Urteile und Vorurteile über Österreich auszulösen imstande war. Und er wusste nichts davon. Oder nur wenig. Nicht nur in Spanien, Italien und den Niederlanden, wo man ihn vorschnell als Deutschen eingestuft hat, nein, vor allem in Deutschland, in Berlin, München, in Frankfurt am Main.
Andererseits hat sich aber in ihm etwas bewahrt, eine Eigenart oder etwas, das mit dem Begriff Mentalität gut umschrieben ist. Etwas Südländisches, zumindest wenn man im Norden lebt.


Labyrinthe

Nun, seit einiger Zeit ist er hier.
Es ist ihm fremder als je zuvor.
Aber das Fremde war immer seine Praxis, auch dort wo er herkommt.
Das Fremde ist meine Praxis, denkt er, das Vertraute ist mir fremd.
Und ich habe mich doch wohl gefühlt. In der Fremde.
Heisst das unter Umständen, dass er sich im Ausland Eigenschaften angeeignet habe, mehr oder weniger aneignen musste, um zu überleben oder zumindest zu leben ?
Vielleicht.
Krakauer hat sich seine Welt geschaffen und wird es auch diesmal schaffen.
Gaskapjan, erschaffen.
1Möglicherweise funktioniert seine Eigenart nur in unbedeutenden, unter dem Begriff "eigentümlich" laufenden Äusserlichkeiten. Sein Inneres aber nur, wenn er über sich nachdenkt ? Die verspielten und manchmal zur Rankune neigenden Formen mit anderen umzugehen, werden ausserhalb seines Kopfes nicht verstanden, auch nicht gewollt oder fehlgedeutet. Schliesslich macht der das Spiel, der die Regeln der Kommunikation aufstellt. Als Fremder hat man sich den Spielregeln zu fügen, die das Gegenüber bestimmt. Oder das Land.
Das Ganze einer Stadt ist eben mehr als die Summe der Details. Es entsteht ein Charakter; charmant hier, ruppig dort. Natürlich versteckt sich hinter dem Wort Charakter eine Vielzahl von Verhaltensweisen, Gebärden, Ansichten, Arten miteinander umzugehen.
Städte sind weiblich. Alle: eine Mutter, eine Geliebte, eine Hure, eine Dame, eine Schwester.
Nach einigen Jahren hat er die Welt aus der er gekommen war, anders gesehen, tatsächlich anders. Die Welt ist anders.
Was bedeutet anders ?
Heute, hier, zurückgekehrt ins vertraute Fremde, neigt er dazu das draussen anders zu sehen als es ist. Berlin, die Mutter ist anders als das Bild einer Sammlung von oberflächlichen Informationen, die einem Bekannte oder die Medien kundtun. München ist anders. Frankfurt ist anders. Alles ist anders. Die Welt ist anders. Auch Frauen sind anders. Sicher, denkt er.

Die breite, gepflasterte Strasse führt vom Hafen, einen der Binnenhafen der Stadt, weg, in einen der Aussenbezirke, wo die grossen Lagerhäuser Woche für Woche gefüllt und entleert werden. Täglich.
Von früh bis spät.
Im Hintergrund begrenzt die Strasse ein Bürgersteig, der - wie man annehmen muss - selten von Bürgern betreten wird. Hier geht keiner spazieren, vorbei an den Auslagen oder um seinen Geschäften nachzugehen, auf diesem Gehsteig wartet täglich am frühen Morgen eine Arbeiterschar vor dem grossen Tor, um den Taglohn zu verdienen. Und nicht alle schaffen es. Einige kehren verdrossen um, gehen in die nächste Kneipe, trinken ein Bier und fluchen.
Das Tor hat zwei übermannshohe Flügel aus Brettern und ist mit einer Kette verschlossen.
Das, was die Hilfsarbeiter täglich auf ihren Rücken laden, transportieren, abladen und aufstapeln, mag des Schutzes wert sein und doch, wenn es hier etwas zu stehlen gibt, ist es doch die Arbeit, vielleicht der Taglohn von hundert Arbeitern.

Das Tor steht zwischen zwei mannshohen, gemauerten, kantigen Säulen, die am oberen Ende in Art kleiner, quadratischer Pyramiden mit Dachziegeln abgedeckt sind.
Von der linken Seite führt die den Bürgersteig begrenzende Bretterwand hunderte Meter weiter und verschwindet am Horizonta. Neben einer Säule hängt auf drei Holzmasten, in Form eines Galgens eine Laterne, die das Tor und die nähere Umgebung beleuchtet.
Es ist Nacht, der Himmel ist schwarz, über die Bretterwand, vom Lagerplatz her, dringt ein breiter, schwerer Nebelschwaden auf die Strasse. Wenn man die Szenerie lange genug betrachtet, erkennt man im Hintergrund einen Haufen von Kisten und Holzsteigen, aufgeschlichtet für den Abtransport oder allfälligen Gebrauch.
Auf der endlosen Bretterwand kleben noch Reste von Plakaten, abgerissen, entweder weil man neue aufkleben will oder weil das Plakatieren hier verboten ist. Wer will auch hier irgendetwas plakatieren ? Es ist keine Gegend, in der Käufer wohnen.
Die Papierreste leuchten im Licht der Laterne wie ein Bild, dem man aus der Entfernung mehr abstrakten als konkreten Charakter zutraut. Von den kantigen Säulen des grossen Tores ist mannshoch der Putz abgebröckelt; das matte, regengefärbte Weiss des oberen Teils ergänzt die weissen Flecken der abgerissenen Plakate bis zum Schwarz und Braun des Tores und des Himmels.
Abgesehen von der Künstlichkeit des vorgestellten Bildes, vermitteln Bretterwand, das Tor, die Säulen, der Hintergrund und die Laterne etwas von ärmlicher Verkommenheit. Die Gegend, die Strasse, alles hat hier seine Zeit erlebt. Was man sieht, ist ein Rest, etwas Zurückgebliebenes, das gerade noch gebraucht wird. Die Strasse ist breit und ausladend auf der anderen Seite befindet sich ebenfalls ein Gehsteig. Direkt über dem Rinnsal steht eine Frau. Sie ist jung, vollschlank und trägt eine Frisur, die man früher einmal als Bubikopf bezeichnet haben würde.
Ihre füllige Gestalt wirkt müde und wirft einen grauen Schatten auf den Pflasterstrand der Strasse.
Sie ist allein. Unter dem rechten Arm hält sie eine kleine, schwarze Tasche. Sie raucht und stützt den rechten Arm in die Hüfte auf den Schuhen, die Pantoffeln gleichen, sieht man Reste von Stoffblumen. Unter der kurzärmeligen Wolljacke, trägt sie einen grüngestreiften Pullover, der die grossen Brüste und die Figur noch massiger scheinen lasse. Der halblange Rock mit einem langen Zippverschluss auf der linken Seite hält ihren Körper in der gewünschten Form. Die Zigarette glimmt in unregelmässigen Abständen.
Sie blickt auf die Strasse in Richtung der langen Bretterwand als warte sie.
Ja,sie wartet. Sie wartet.2Eine Frau.Ein Bild einer Stadt, denkt Krakauer.Das, was ein Reisender als Erinnerung an eine Stadt im Kopf behält, hat mit der politischen, kulturellen oder historischen Bedeutung des Ortes wenig zu tun. Etwas bleibt. Angelpunkte, die einem das Ungetüm Stadt überlässt. Es sind Mosaiksteinchen, die aus dem Selbst entstanden sind und wie geheime Lotsen in die Wahrnehmung führen. Auch bei einem wie Krakauer. Einem Aussenseiter.
Das, was ein Liebender als Erinnerung an eine Frau im Kopf behält, hat mit der Bedeutung des Wesens Frau wenig zu tun. Etwas bleibt. Angelpunkte, die einem die Erinnerung überlässt. Es sind Mosaiksteinchen, die aus dem Selbst, aus der Gemeinsamkeit entstanden sind und wie geheime Lotsen in die Wahrnehmung führen. Bei einem Mann. Irgendeinem.
Es sind Labyrinthe, die anziehen und abstossen zugleich. Mehr oder weniger hat man kaum eine Chance, sie zu begreifen. Vielleicht kehrt man deshalb gerne zu ihnen zurück. Oder verlässt sie auf kurze Zeit. Es mag sein, dass Frauen und Orte durch ihren Charme oder ihre Sprödheit und ihre niemals restlose Hingabe den Weg des Begreifens verweigern, denkt Krakauer.

Wenn er mit ihnen ins Gespräch kommen wollte, schwiegen sie. Was könnten sie auch erzählen ? Enge Anekdoten, über die wilden Jahre, über die Kriege, über sanfte Vereinbarungen, über die Unschuld, das Leben, die Menschen ?

Etwas haben Städte und Menschen sicher gemeinsam. Einerseits die nostalgische Gebärde, welche die Vergangenheit immer höher einschätzt als sie tatsächlich war. Das Ende der Monarchie, die Goldenen Zwanziger. Kaiser Franz Joseph und Charleston. Oder Lilli Marleen. Oder Hans Moser. Oder der Friedrichspalast. Oder die Secession. Oder Rosa Luxemburg und der Landwehrkanal. Oder: Es schwimmt eine Leiche im Donaukanal. Es sind gleichsam Bühnen und die zahllosen Egos sind die Darsteller im Theater Welt. Oder Komparsen, wenn sie sich zu sehr fügen oder ängstigen. Jedermann benützt den eigenen Alltag als Schützengraben zur Verteidigung seiner Existenz, gleich wie eine Vogelscheuche zur Abschreckung dessen, was wirklich in den Städten vor sich geht. Denn das, gerade das bedroht sie. Was den normalen Menschen mit den Kulturen, den Naturen und der Zivilisation dieser Städte verbindet, ist seine Kultur, seine Natur, seine Zivilisation. Es war stets meine Kultur, meine Natur, meine Zivilisation, meine Gedankenwelt, denkt Krakauer. Die höhere Bedeutung des Lebens ist unter Umständen nicht zu arbeiten oder als Parvenue in den Tag hineinzuleben, vielleicht etwas erleben aber was ist ein Erlebnis schon ? Die Bedingungen zur Antwort auf die Frage nach der Bedeutung des Bedingten zu machen.
Das Leben erhöht seine Bedeutung, wenn man die Bedingungen verschwinden lässt, ob diese Sympathie, Liebe oder Arbeit heissen oder die Attraktivität, die es zur Schau stellt.
Die Bedingungen verschwinden lassen, denkt er.
Die Alltage sind Ungetüme, die sich Tag für Tag selbst erleben. Und lieben. Und hassen. Am Morgen erwachen sie. Bald sind sie voller Leben. Wie immer. Irgendwo in der Welt. Die Geschäfte und Ämter werden geöffnet, die U-Bahnen, Busse, die Strassenbahnen mit Menschen gefüllt sein, die der gewohnten Arbeit an einem gewöhnlichen Tag nachgehen. Die Strassen werden überfüllt von Menschen und Fahrzeugen sein. Die Polizei wird den Verkehr regeln, Freund und Helfer sein und die Bösen während oder nach der Tat stellen. Der Verkehr wird rauschen, den ganzen Tag lang. Einen Tag lang werden sich die Menschen sich der Arbeit oder dem Müssiggang hingeben. Sie werden betriebsam sein. Oder auch nicht. Jeden Tag. Alltäglich. Plätze, Orte, Arbeitsplätze, Geschäfte, Büros werden voll sein oder sich entleeren und den Leben ihre unbeachtete Bedeutung verleihen. Überall auf der Welt.
Ja, Leben sind Ungetüme. An sich sind sie gedankenlos. Es ist zuviel, was man denken müsste. Jeder Einzelne denkt, sicher. An sein Leben. Die Welt verlangt es von ihm.
Es sind Vorstellungen. Wie die Welt selbst oder der Traum vom Tau auf den Blättern am frühen Morgen eines Herbsttages im Humboldthain, Berlin - Wedding oder im Denzelpark, Wien - Margareten.
Überall. Viele tausend Lokale, Beiseln, Kneipen, Restaurants, Pinten, Würstelstände und Schnellimbisse. Döner Kebab und eine Käsekrainer, Lucky Strike und Milde Sorte, ein Viertel vom Roten und ein Doppelkorn. Vergängliche Grüsse oder vergängliche Grössen. Voll mit Menschen. Männer. Frauen. Mit Eigenschaften. Charaktereigenschaften.
Die Brücke zum Kreuzberg. Rechts unten die S-Bahn. Zwischen den Gleisen eine Nachbildung der Mauer aus Steinen, Scherben, Schutt. Kinder. Sie haben etwas nachgebaut.3 War das Berlin ?Wie der Einsturz der Reichsbrücke in Wien oder die Phantasieräubereien des Herrn Hundertwasser; eine Müllverbrennungsanlage mitten in der Stadt, ein Phallus mit goldener Haube.
Die Dämmerung möge sich endlich lichten. Doch sie bleibt. Sie bleibt.
Der Potsdamerplatz. Ich geh´ eine vergoldete Strasse entlang. Der Himmel zerfliesst im Sonnenuntergang. Da kommen Frauen märchenschön, und bleiben vor den glitzernden Läden stehn. In Blüten schwimmt der Potsdamerplatz, er träumt vom Mond, dem Götterschatz.4 Der Potsdamerplatz. Ich geh´ eine breite Halde entlang. Der Himmel träumt vom Sonnenuntergang. Da kommen Männer, stark und schön und bleiben vor der Halde stehn. In Beton schwimmt bald der Potsdamerplatz und träumt nie mehr vom Götterschatz.
Und einer steht und schaut und schaut und schaut, denkt Krakauer.
Er blättert in einem Buch.


6.

McIntosh. Er mußte ganz durchtrieben gewesen sein. Joey Jankovicz gegenüber verhielt er sich immer wie ein Untergebener. Er hatte zweifellos aber von Anfang an einen Plan. Er war schlau- er, als alle die anderen geglaubt hatten. Und ist mit dem Geld abgehauen. Er war clever genug, lange Zeit zu warten und dann jenes unglaubliche Countdown zu machen, das es je in dieser Szene gegeben hatte. Es hat geklappt.
Als ich mit Dutch darüber rede, pfeift er leise durch die Zähne und macht sich Notizen. Der Kerl ist abgehauen und wir kriegen ihn nie, sagt er. Joey Jankovicz wurde vor ein paar Wochen bei einem Autounfall getötet. Seine Leiche lag eine Zeit lang im Schauhaus, denn keiner wußte, wer er war. Aber er war`s. Kein Zweifel. Wir haben die ganze Vergangenheit von Jankovicz, nachdem wir endlich gewußt hatten, daß er es war, umgekrempelt. Er war unzählige Male festgenommen worden, wurde aber nur zweimal verurteilt, obwohl die anderen Beschuldigungen ganz schön dick gewesen seien. Er hatte den richtigen Anwalt gehabt. Bei der elften Festnahme, es war wegen Körperverletzung, hat Anwalt Makle einen Freispruch durchgesetzt. Jetzt ist er tot. Und McIntosh irgendwo. Mit dem Geld.
Mit meinem Geld, denke ich. Das Schwein. Und ich schaue durch die Finger, denke ich. Aber ich weiß, wo er ist. Und kriege ihn. Irgendwann.

Krakauer legt das Buch beiseite und blickt aus dem Fenster.

Gleichsam mit einer Faust in der Hosentasche lebte er in der Stadt. Und begann die Gesellschaft, die Menschen zu begreifen und fühlte sich irgendwann zuhause. Er lernte die süsse Freiheit kennen, die sich von der wo anders kaum unterscheidet. Und er spürte auch den leichten, bitteren Geschmack. Ein Gefühl. Vielleicht Liebe. Oder Trauer.
So unvergleichbar die Städte auch scheinen, soviel Gemeinsames haben sie doch. Wenn auch die Mentalität, das miteinander Umgehen in jeder Stadt eine andere ist, bleibt ihnen doch eine geradezu unersättliche Begierde nach Nostalgie gemeinsam.
Ein Blick zurück zeigt ihm, dass die frühere Zeit auf die Kultur bezogen eine Unzahl von Positionskämpfen, Rankünen die Öffentlichkeit prägte.
Am Ende wird die Weisheit der Psychoanalytiker wirklich zu dem, wofür das faschistische Unbewusste der Schauermagazine sie hält, zur Technik eines Spezialrackets unter anderen leidende Menschen unwiderruflich an sich zu fesseln, sie zu kommandieren und auszubeuten.5Die Nostalgie, die Hang der Menschen und Städte zum Vergangenen offeriert sich nicht im Jugendstil, dieser Dekorationskunst, der Secession und der Loos Bar, sondern wird zurechtgerückt im Obergeschoss des Naturhistorischen Museum, ohne Licht in riesigen Hallen, mit seinen monumentalen Sammlungen von Walrossen, Hasen und Elchen, Zebras und Totenköpfen, Hirschen, Fischen und Pythons. Grau und verstaubt und unberührbar zeigt sich die Nostalgie als eine volkstümelnde Grossartigkeit einer gestorbenen Monarchie.
Und die Goldenen Zwanzigerjahre ? Der Friedrichpalast, das Brandenburger Tor, Sansouci, Schloss Charlottenburg, der Alexanderplatz ? Berlin, sagte ein Architekt unlängst im Radio, wird immer wieder neu gebaut, um die Vergangenheit, die stets eine elende war, zu verdrängen. Lifting, Kosmetik ? Eine Schönheitsoperation ?
Oder es ist der Schnee vergangener Jahre. Der stört.
Und die Kultur ?
Viele sind erst nach ihrem Tod bemerkt worden. Berlin lässt alle in Ruhe im Unterschied zu Wien, wo jeder umarmt wird und irgendwann einmal der Stadt gehört.
Die Nostalgie gehört zu einer Mentalität von Städten und Menschen und damit zu Eigenarten, das Vergangene unkritisch und höher einzuschätzen als das Lebende.
Der Zeit ihre Kunst und der Kunst ihre Freiheit, steht über dem Portal der Secession in Wien.
Die Welt ist anders. Auch diese Stadt.
Was ist nun das Andere ?
Ich glaube, denkt Krakauer, es hängt mit der Sprache und damit verbunden mit der Mentalität zusammen.
Die Sprache ist die Allerweltshure, die ich zur Jungfrau mache.6 Gegenwart und Vergangenheit. Es bedarf nur eines leichten Aufflaumens der Gegenwart - als kraulte man den Bauchflaum einer Gans - und die Vergangenheit wird sichtbar, die unberührte, wie das reine Weiss dicht am Bauche des Vogels.Zugehörigkeit. Eine der niedrigsten Tendenzen des Menschen ist: irgendwo dazugehören. 7Meine Vergangenheit, denkt Krakauer.Gehöre ich ihr ? Oder der Erinnerung, welche die Sprache mir ermöglicht ?Das heisst, unter welchem Einfluss immer neige ich dazu mit meiner Sprache nicht die Wirklichkeit abzubilden, sondern mit Hilfe meiner Mentalität ein Spiel mit der Realität zu treiben. Habe ich aus diesen Gründen überlebt, geht es mir deshalb so oder so gut ?
Was ist ihm, Krakauer, tatsächlich fremd und so eigenartig geworden ?
Sein mehr oder weniger zwanzigjähriger Aufenthalt irgendwo hat ihm etwas vermittelt, was ihm das Vertraute seines Landes vermissen liess.
So wie Berlin, eine Mutter es nicht bemerkt zu haben scheint, dass er gegangen ist, so hat Wien, die Gnädige Frau es bemerkt, dass er gekommen ist.
Plötzlich, als komme ich aus der Wildnis, fühlte er sich wohl wie in einem warmen Zimmer und bemerkte nicht, dass ihm schnell und unbarmherzig eine Rolle zugefallen ist.
Welche ?

Ich bin zurückgekehrt, ich habe den Flur durchschritten und blicke mich um. Es ist meines Vaters alter Hof. Die Pfütze in der Mitte. Altes, unbrauchbares Gerät, ineinanderverfahren, ver- stellt den Weg zur Bodentreppe. Die Katze lauert auf dem Geländer. Ein zerrissenes Tuch, einmal im Spiel um eine Stange gewunden, hebt sich im Wind. Ich bin angekommen. Wer wird mich empfangen ? Wer wartet hinter der Tür der Küche ? Rauch kommt aus dem Schornstein, der Kaffee zum Abendessen wird gekocht. Ist dir heimlich, fühlst du dich zu Hause ? Ich weiss es nicht, ich bin sehr unsicher ?8Ich habe, denkt Krakauer, in der Fremde das abgelegt, was mir dort nicht notwendig erschienen ist, ohne das ich schwer überlebt hätte. Etwas Mentales, Heimliches, etwas zwischen Sadomasochismus, Angst oder besser Ängstlichkeit und das, was man kokett gerne als Gemüt bezeichnet.
Gibs auf ! Es war früh am Morgen, die Strassen rein und leer, ich ging zum Bahnhof. Als ich eine Turmuhr mit meiner Uhr verglich, sah ich, dass es schon viel später war, als ich geglaubt hatte, ich musste mich sehr beeilen, der Schrecken über diese Entdeckung liess mich im Weg unsicher werden, ich kannte mich in dieser Stadt nicht mehr so gut aus, glücklicherweise war ein Schutzmann in der Nähe, ich lief zu ihm und fragte ihn atemlos nach dem Weg. Er lächelte und sagte: Von mir willst du den Weg erfahren ? Ja, sagte ich, da ich ihn selbst nicht finden kann. Gibs auf, gibs auf, sagte er und wandte sich mit einem grossen Schwung ab, so wie Leute, die mit ihrem Lachen allein sein wollten..9Ich gebe nicht auf, warum auch ?Ich werde den Weg zum Bahnhof finden. Immer wieder.Berlin, Lichtenberg. Hin und zurück. Bitte.Sozusagen, Krakauer will beides; da und dort. Wie ist da Berlin toll. Eine Stadt wie Berlin ist ein ungezogener, frecher, intelligenter Bengel, bejahend, was ihm so passt, und wegwerfend, wessen er überdrüssig geworden ist. Hier in der Grosstadt spürt man es ordentlich, dass es Geisteswellen gibt, hinwegströmend, gleich einem Bad, über das gesellige Leben. Ein Mensch ist hier gezwungen aufzuhorchen. Anderswo darf er, die Ohren verstopft, in die Ignoranz versinken. Hier darf er es nicht. Er muss sich vielmehr beständig menschlich ein bisschen zusammennehmen, und dieser Zwang, der ihn umkreist, gereicht ihm zum Vorteil. Doch es gibt auch andere Dinge. Berlin ruht nie, und köstlich ist das. Jeder erwachende Morgen bedeutet einen neuen angenehm - unangenehmen Überfall aufs Behagen und das tut ihm gut, dem Bequemlichkeitssinn. Ins stille, feine Wesen fährt das grobe, laute und unfeine. Es verwischt sich da stets etwas, und das ist gut, es ist Berlin und Berlin ist ausgezeichnet.10Und Wien, die Gnädige Frau ?Wie ist Wien toll. Eine Stadt wie Wien ist.Wer ins Fremde heimkehrt, produziert unvermeidlicherweise auch Abfall. Krakauer schiebt die Gedanken vor sich her und ist tatsächlich in Gefahr, sich zu verlieren.
Krakauer sitzt in einen der wunderbaren Cafés in Wien, umgeben von kleinen und grossen, dicken und dünnen, alten und jungen Menschen. Es herrscht ein Klima des Daheimseins, obwohl er keinen kennt und auch niemanden erwartet. Er sitzt nur da, trinkt Kaffee und blättert in den Zeitungen. Studenten diskutieren, Herren spielen Tarock, junge Damen plaudern und blicken zur Türe. Der Ober eilt durch den Raum, serviert, kassiert. Er weiss, was er tut.
Schon lange. Krakauer sitzt hier und denkt daran, was ihm in woanders abgegangen ist. Genau das. In einem Kaffeehaus zu sitzen und zu denken, nachzudenken, was ihm woanders abgeht.
Im Café befinden sich mehrere Sitzgarnituren mit Lederpölstern und dazugehörenden Marmortischen. Neben den Billardtischen, rechts im Hintergrund, sind die Polstersessel durch schwarze Thonetstühle ersetzt. Der Eingang rechter Hand ist eine dreiwandige Drehtüre, deren unterer Teil aus Holztäfelungen besteht. Die Glasscheiben sind geschliffen und mit Ornamenten verziert. Grosse doppelflügelige Fenster geben den Blick nach draussen frei, auf einen belebten Platz, der nach einem ehemaligen Bürgermeister der Stadt benannt ist. Karl Lueger. Zwischen den Fenstern und hinter der Bar sind grosse Spiegel, die den Raum geradezu ins Unermessliche vergrössern. Die Decke ist mit Stuckornamenten verziert. Hinter der Bar arbeitet die Cafetieuse und bereitet die Getränke zu. Der Ober führt ein strenges Regiment. Er ist unhöflich aber genau. Er weiss, was er tut.11Alles, was eigentlich nicht oder nebenbei geschieht, vollzieht sich hier, denkt Krakauer, ja, und verdient Beachtung, die volle Achtung und Aufmerksamkeit.Im Café wird vieles gedacht, erfunden, widerlegt, neu begonnen, vollendet. Wenn man ein Kaffeehaus betritt, ohne sich zu verabreden, hat man seine Ziele vergessen.Etwas in Zeiträume und Abstände einzuteilen, nimmt dem Leben die Freiheit, die Ruhe. Das erhält man hier: Ruhe und eine seltsame Art von Freiheit.
Er blickt durch den Raum. Langsam füllt sich das Café.
Es ist früh am Abend. Der Ober arbeitet. Zwei Herren spielen Billard, drei Damen bilden ein Kränzchen, ein Herr hebt die Karten ab, ein anderer teilt sie aus, ein junger Mann liest ein Buch oder gibt es vor, eine junge Frau küsst einen Hereinkommenden.
Der Ober geht durch den Raum.
Ein leises Murmeln, das Anschlagen der Kugeln, das Reiben der Kreide an der Queuespitze, das Zischen der Mokkamaschine, das Quietschen der Drehtüre, Schritte sind zu hören.
Ich fühle mich hier zuhause, denkt Krakauer. Zweifellos. In einem Kaffeehaus. Und wenn es in Berlin wäre ?
Mutter Berlin würde ein Frühstück zubereiten.
Jetzt am frühen Abend.
Die alte Frau Berlin hat eine Frühstückskultur entwickelt, die ihresgleichen sucht. Frühstück bis 17 Uhr. Oder auch länger. In den unzähligen Bars irgendwo in Schöneberg.
Ein Kaffeeehausersatz ?
Er steht auf, zahlt und geht.
Er spaziert das Wiental entlang. Unter sich die U-Bahn, links und rechts der strömende Verkehr. In der Mitte der Naschmarkt. Vorbei an der eisernen Zeit. Ein Gasthaus.
Die eiserne Zeit.


1.Pfeiffer, Etymologisches Wörterbuch des Deutschen, Seite 1488

2.Eisendle, Block oder Die Melancholie

3.Eisendle, Block oder Die Melancholie

4.Rene Schickele

5.Theodor W. Adorno über Sigmund Freud

6.Karl Kraus

7.Heimito von Doderer

8.Robert Walser

9.Robert Walser

10.Robert Walser

11.Helmut Eisendle, Die vorletzte Fassung der Wunderwelt


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