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7.

Dann wird es mit einem Male dicht.
Als das Taxi vor einer Ampel stoppt, schreit plötzlich jemand auf der Straße. Ich habe gerade noch Zeit meinen Kopf herumzureissen und den Wagen zu sehen, der uns von der Seite rammt. Ich lasse mich flach auf den Sitz fallen, als das Taxi von einem gewaltigen Stoß erschüttert wird. Glassplitter und Metallstücke fliegen durch die Luft. Einen Augenblick lang balanciert der Wagen auf zwei Rädern, dann fällt er auf die Seite und liegt da in der Stille der ersten Sekunden nach dem Unfall. Der Fahrer stöhnt leise und alles riecht nach Benzin. Plötzlich öffnet einer die vordere Türe, Arme strecken sich in den Wagen, um den Taxichauffeur herauszuziehen. Ich helfe von innen nach und krieche selbst hinaus. Ich stehe da, von Menschen umringt, und taste mich ab. Einige Leute gruppieren sich um den Fahrer, der nicht verletzt scheint, sondern einen Schock erlitten hat. Der Lastwagen war quer über die Straße gekommen und so direkt auf uns zugefahren, daß es aussah, als ob der Fahrer es absichtlich getan hätte oder betrunken war. Aber im Wagen war kein Fahrer mehr zu sehen. Jemand sagt, er sei aus der Kabine gesprungen und über die Straße zur U-Bahn gelaufen. Es habe ausgesehen, als sei er verletzt. Er habe sich den Bauch gehalten und sei getorkelt. Dann sehe ich den Wagen. Es war ein blauer Lieferwagen. Joey war durch einen Autounfall umgekommen. Es war klar, McIntosh. Ein blauer Lieferwagen. Frontal. Der Fahrer war weg. McIntosh. Das Schwein.

Der Mensch, zumindest so einer wie ich, ist ein Geist. Was aber ist der Geist ? Geist ist das Selbst, das Ich, das Ego. Was aber ist das Selbst genau ? Ein Ich ? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich verhält. Das Selbst, auch das Ich, ist also nicht das Verhältnis, sondern das Verhältnis, das sich zu sich verhält. Irgendwas zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Eine Synthese, ein Verhältnis zwischen Zweien. Also ist der Mensch kein Selbst, kein Ich ? Er ist ein Verhältnis.
In dem Verhältnis zwischen Zweien ist das Verhältnis das Dritte. Und die Zwei verhalten sich zum Dritten, also zum Verhältnis. So etwas Verwirrendes wie Leib und Seele. Ein Verhältnis. Verhält das Verhältnis sich zu sich selbst, so ist das Verhältnis das Dritte, das Selbst, das Ich, das Ego.
1)Oder ist der Mensch ein Ich erst dadurch, dass er durch einen Anderes erkannt wird, sodass er nur existieren kann, indem er etwas ist, also indem er sich im Sich-zu-einem-Verhalten zugleich zu einem Anderen verhält ?
Das Verhältnis, ja, das Verhältnis zu wem ?
Ich habe ein Verhältnis zu mir und sonst keinem.

Whittingtons Katze.2) Krakauer bleibt bei einem Imbisstand der Firma Nordsee stehen und kauft ein Matjesbrötchen. Dazu eine Dose Bier. Neben ihm steht eine Frau, die sofort und ohne Begrüssung zu reden beginnt, als sie eine Katze sieht, welche sich einiger Fleischreste am Boden bedient.
Sie ist gut gekleidet, mit einem schwarzen Mantel, unter dem dunkelblauen Hut blonde Haare, halblang, um die vierzig. Es scheint, dass es ihr einfach Spass macht, weil sie es sich leisten kann, mit jedem auf der Strasse ein Gespräch zu beginnen.
Eine Katze. Schauen Sie.
Krakauer blickt sie an.
Ja, eine Katze.
Kennen Sie die Geschichte von Dick Whittingtons Katze ?
Nein, kenne ich nicht. Muss man das ?
Bei Gott nicht, aber.
Erzählen Sie. Was ist mit Whittingtons Katze ?
Dick Whittington war ein kleiner Junge, den es vom Land nach London verschlagen hat, wo sich ein reicher Kaufmann namens Fitzwarren seiner annahm. Er stellte Dick als Küchenjungen an. Allein bei dieser Arbeit ging es eher schlecht als recht. Der Koch prügelte ihn, wann er wollte. Bei jeder Gelegenheit bekam er eins hinter die Löffel. Fitzwarren selbst liess sich in der Küche nie blicken. Einzig und allein dessen Tochter Alice war gut zu ihm. Auch in der Dachkammer, wo er schlief, hatte er kaum Ruhe. Die Mäuse und Vögel, die den Dachboden beherrschten, machten solchen Lärm, dass Dick nicht schlafen konnte.
Endlich kaufte er sich um ein paar Pennies eine Katze, die ihn tatsächlich von den Plagegeistern zu befreien schien.
Fitzwarren, der ein reicher Händler war und viele Schiffe in die Welt sandte, hatte einen Brauch, der darin bestand, dass er jedem Angestellten gestattete, etwas übers Meer zu schicken, das dann verkauft werden würde und das Geld, welches es brächte, käme dem Angestellten zugute.
Dick besass aber nichts, was für andere einen Wert besass. Eben nur seine Katze. Und da er bettelarm war, gab er sie her. Alle lachten, als sie das erfuhren.
Katzen gibt es doch überall. Überall. In jedem Land. In jedem Dorf. Überall. Tatsächlich überall.
Nun war er seine Katze auch los und wieder tyrannisierten ihn die Mäuse und Vögel in seiner Dachkammer.
Als sie das Geschick hörte, gab ihm Alice ein wenig Geld, damit er sich eine andere Katze kaufen konnte.
Das Schiff fuhr los und wurde nach langer Fahrt durch einen Sturm an eine Küste verschlagen, die von wilden Berbern bewohnt wurde.
Aus Angst und Not schickte der Kapitän Geschenke an Land und der Berberfürst lud ihn tatsächlich zu einem Festmahl ein.
Als die Schüsseln mit den verschiedensten Gerichten aufgetischt waren, sprangen plötzlich Tausende von Mäusen und Ratten ins Zelt und frassen alles auf.
Der Kapitän erinnerte sich an Dicks Kätzchen, liess es holen. Wieder wurden die Tische mit Speisen beladen und die Katze richtete ein wahres Blutbad unter den Mäusen an, das alle in Erstaunen versetzte.
Um sich dankbar zu erweisen, kaufte der Berberfürst die ganze Ladung des Schiffes und gab dem Kapitän noch einen Haufen Gold für die Katze.
Glücklich kehrte der Kapitän mit seinem Schiff nach England zurück.
Dick war wegen der schlechten Behandlung längst davongerannt und lungerte am Hafen herum.
Fitzwarren liess ihn suchen, man fand ihn und führte ihn mit Triumph in Fitzwarrens Haus.
Man gab ihm den Haufen Geld, den der Kapitän für die Katze bekommen hatte.
Dick aber wollte die Hälfte aus Dankbarkeit Fitzwarrens Tochter Alice geben.
Fitzwarren war gerührt und nahm ihn in sein Haus. Nach einigen Jahren heirateten Alice und Dick und wurden ein glückliches Paar. Dick Whittington wurde einer der reichsten Kaufleute und Händler seiner Zeit.
Eine schöne Geschichte, sagt Krakauer, und blickt der Frau tief in die Augen.
Sie sind sympathisch.
Sympathisch ?
Ja.
Und ?
Ich kenne die gleiche Geschichte. Ein wenig anders. Aber es ist die gleiche. Die Katzengeschichte gibt es in verschiedenen Versionen.
Erzählen Sie, sagt die Frau.
Es hat mit der Entstehung Venedigs zu tun.
Erzählen Sie, erzählen Sie.
Soll ich ?
Ja, erzählen Sie.
König Attila belagerte Aquileja und zwang seine Bewohner zu fliehen. Zwei wanderten an die Küste und bauten sich auf einer Halbinsel ein Haus. Das Leben war schwer. Sie lebten gerade von dem, was sie jagten und sammelten. Als der eine fort wollte, um in der Welt sein Glück zu versuchen, bat er seinen Freund, ihm etwas mitzugeben.
Der andere gab ihm zwei Katzen, denn mehr hatte er nicht. Der eine nahm sie mit und kam auf seiner Reise in eine Stadt, die von einer Mäuseplage beherrscht wurde. Er verkaufte die Katzen um eine grosse Summe und fuhr zurück an die Küste. Beide waren nun reich und gründeten die Stadt Venedig. Sie nannten die Stadt venatio, weil sie die erste Zeit nur von der Jagd gelebt hatten. Aus diesem lateinischen Wort entstand der Name der Stadt.
Naja, sie ist nicht so schön wie die von Dick Whittington, wirft die Frau mit einem Lächeln ein.
Und schlecht erzählt, nicht ? Es gibt noch eine Geschichte, sagte Krakauer.
Tatsächlich ?
Sie sind sehr sympathisch.
Wie ?
Sehr sympathisch.
Warum ?
Noch eine ?
Was ?
Geschichte.
Von mir aus. Ja.
Sehr sympathisch.
Erzählen Sie, erzählen Sie. Sie können es wohl nicht lassen, wirklich nicht ?
Nur wenn Sie wollen, Gnädigste.
Ich bin nicht gnädig, gnädiger Herr.
Aber sympathisch.
Also, reden Sie doch.
Na gut. Hören Sie ?
Ja.
Auf Jütland liegt bei Grenaa der Hof Katholm, der seinen Namen folgendem Umstand verdankt:
Einst lebte dort ein reicher Mann, der seinen Reichtum seinen drei Söhnen hinterliess. Der Jüngste dachte daran wie unredlich sein Vater das Geld erworben hatte und machte die Wasserprobe. Diese besagte, dass nur das zurecht erworbene Geld übrig bleiben würde. Er warf also alles in einen Teich und tatsächlich, bleib nur ein Taler auf der Oberfläche. Für diesen kaufte er sich eine Katze und ging in die Welt. Eines Tages kam er an einen Ort, der von einer Mäuseplage beherrscht wurde. Er verkaufte die Katze und bekam viel Geld dafür, kehrte nach Jütland zurück, baute sich ein Haus und nannte es Katholm.3) Naja, sagte die Frau. Mir gefällt trotzdem die Geschichte von mir besser.Verdammt, sind Sie sympathisch.Was meinen Sie damit ?Sympathisch.Tatsächlich ?Warten Sie, sagte Krakauer. Ich kenne noch eine.Was, noch eine ? Frau ?Nein.Gut. Erzählen Sie.So sympathisch.Sie können es nicht lassen, sagte die Frau und lacht.Ist doch so.Was ?Eben das mit der Sympathie.Also gut. Erzählen Sie noch eine, mein Herr.
Sie wollen Sie doch hören oder ?
Naja.
Also, das ist so:
Einst kam ein armer Schiffer aus Ribe auf eine Insel, die von einer Mäuseplage beherrscht wurde. Durch Zufall hatte er eine Katze an Bord. Er erhielt viel Geld unter der Bedingung, dass er nachhause fahren und weitere Katzen holen sollte. Durch diesen Handel wurde der arme Schiffer bald reich. Als er starb, setzte er in seinem Testament eine grosse Summe für den Bau einer Kathedrale in Ribe aus. Noch heute kann man am Eingangstor der Kirche eine Katze mit vier Mäusen aus Stein sehen und das Tor selbst heisst Kathoved Dör, also Katzenkopftor.4) Waren Sie schon einmal auf Jütland ?Nein.Ich schon. Und ?Sympathisch ?Was ?Ja. Tatsächlich ?Was ?Ich habe keine Katze gesehen.Das gibt es nicht.Tatsächlich ?Ja.Vielleicht.Und Katzengeschichten.Auch ?Ja, von Magalotti oder vom persischen Historiker Wasaf.Von wem ? Warum, sind Sie so sympathisch ?Ach, hören Sie doch auf. Warum ?Es reicht jetzt.Wer hat denn begonnen ? Ich habe Ihnen die Geschichte von Dick Whittington erzählt.
Ja, und ich Ihnen die anderen.
Ach, sagt die Frau.
Was machen Sie heute Abend ?
Ich gehe in das Musical Cats.
Musical ? Das halten Sie aus ? Spielt Whittingtons Katze eine Rolle ?
Nein, sicher nicht.
Können wir uns nicht nachher treffen ? Wir können weiter diskutieren, wenn Sie wollen.
Welche Diskussion ?
Na, über Sympathie.
Ist das ein Thema ?
Gut, von mir aus reden wir über Katzen.
Ist das ein Thema ?
Ja.
Warum ?
Warum nicht ?
Oder Musicals ?
Ich hasse Musicals. Das ist etwas für Kinder und Jugendliche. Ich gehe zu einer Lesung von Paul Wühr. Er liest aus seinem neuen Buch: Luftstreiche. In der Alten Schmiede.
Lesungen sind entsetzlich.
Die Frau zahlt, verabschiedet sich und geht.
Sehen wir uns heute Abend, ruft Krakauer ihr nach.
Ja, vielleicht, antwortet sie.
Krakauer bestellt noch ein Bier, trinkt, zahlt auch und spaziert den Naschmarkt entlang.
Ich halte nichts von Cats, denkt Krakauer und kehrt in ein Weinhaus ein. Trotzdem, eine interessante Frau.
Haben wir vereinbart, wo wir uns treffen ? Eben nicht. Sie geht in das Musical Cats, ich zur Lesung von Paul Wühr.
Es ist ein Dilemma.


Das Dilemma


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