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9.

Dunkelheit hat die Stadt eingehüllt als ich im Riddle ankomme. Es ist ein ziemlich schmutziges Lokal, nur durch die Straße vom Fluß getrennt, dem elende Fluß. Es stinkt in dem Lokal, nach Bier, Urin und ganz einfach nach Alter. Aber es hat noch immer zahlreiche Gäste, Stadtstreicher, neugierige Journalisten, Studenten und Strolche, die in dem Viertel am Fluß hausen, wo die meisten Häuser Mietwohnungen sind. Seit drei Jahren war ich nicht mehr hier gewesen, deshalb machte ich mir keine Sorgen, daß mich einer erkennen könnte. Und der Wirt würde nichts sagen. Sicher nicht.
Ich erwische Juri in der Küche und brauchte ihm die Geschichte gar nicht erklären. Sofort reagierte er:
Ein blauer Lieferwagen ? Er gehört Hank, einem Freund von McIntosh.
Ja, sage ich. Und er ist wirklich ein Freund von McIntosh. Der ist tot.
Tot ? Scheiße.
Warum Scheiße ?
Die gehören doch alle zusammen.
Wer ?
Alle.
Wer ?
Die ganze Partie. Trinkst Du was ?
Ein Budweiser. Schnell, ich muß gehen.
Er geht zur Schank, zapft das Bier.
Als ich zahlen will, sagt er: Paßt schon.
Alle Gute, Juri.
Laß dich wieder einmal sehen, Alter.

Ein Spiel oder ist es im Nachhinein, wenn man es gleichermassen erlebt hat, ernst ?
Die Drohung dieser Behauptung ist so stark, die Zentrifugalkraft ist zu gross; es wäre dumm, nicht daran zu glauben: Ich meine, nicht an die Ernsthaftigkeit der Situation oder des Spieles zu glauben.
Damit habe ich mich in eine Wunderarche eingeschmuggelt und segle dahin.
Die Welt draussen ist doch gescheitert ?
Abgewrackt ?
Sie missfällt wie üblich.
Und die scheinbare, wunderbare, innere, die Erlebniswelt ?
Turning and turning in the widening gyre, the falcon cannot hear the falconer.
1)Der Falke hört, wenn er seine freien Spiralen in der Luft zieht, nicht den Falkner.In dem Alter der Welt, in dem ich lebe, findet der unmittelbare Verkehr mit den höheren Mächten, sozusagen mit dem Himmel nicht mehr statt.
Ja, das Ewige hat mich tatsächlich nie besonders erbaut.
Gott ist ein Kuckuck im falschen Nest. Zumindest für mich.
Wenn ich in einen anderen Tag, eine andere Zeit, eine andere Welt geriete - nicht den heutigen, nicht die Gegenwart, nicht diese Welt - würde sie, die Dame dann auch da sein ?
Wären wir gemeinsam in den Tag geraten ?
Oder nicht ?
Es war doch eine Sache des Gefühls, das mich vielleicht gegen alle Vernunft aber zugunsten der Sympathie, die plötzlich da war, zu ihr, so denken liess und lässt, wobei ich annehmen muss, dass diese, meine Unvernunft mich meine Freiheit, die, wie man weiss, nur im Kopf stattfindet, höher einschätzen lässt als in meinem Alter möglich ist.
Dieses kümmerliche Gewächs. Meine gealterte Freiheit.
Mein Besitz. Zumindest so etwas ähnliches.
Halt !
Am feinsten lügt das Plausible.
Wäre es nicht plausibel, wenn sie jetzt vor mir erschiene ?
Krakauer geht langsam über den Naschmarkt. Vorüber an den Ständen mit Gemüse, Obst, Fleisch, Kleidern, Früchten, Brot.

Es ist kurz vor sieben Uhr abends.
Als er beim Imbisstand der Firma Nordsee ankommt, um ein Matjesbrötchen und eine Dose Bier zu kaufen, kommt die Dame um die Ecke.
Hallo. Da sind sie ja.
Oh, sagt Krakauer.


Dialog zwischen Kopf und Herz (2)

Kopf: Splitter über das Gefühl, über das Fühlen, über die sinnlosen Arabesken des Fühlens und des Denkens von Gefühlen, über die verwirrten Gefühlsparks der Menschen.
Herz: Gefühl des einfachen Mannes auf der Strasse oder des Millionärs oder des Künstlers oder des Stadtstreichers, das Gefühl ist mehr als ein Gegenstand, mehr als ein Gebrauchsgegenstand, mehr als ein Mittel zum Zweck, das Gefühl ist mehr als ein Ding mit dem man irgendetwas richten, herrichten, hinrichten, her- stellen kann - und wenn es nur eine Stimmung ist.
Kopf: Gefühl ist nichts anderes, tatsächlich nichts anderes als sein Gebrauch, eben Obskurität, das Gegenteil von Klarheit oder das Verstehen schlechthin, unzweifelhaft, die Spannung oder das Hingeben ins Nichts, die Befriedigung oder das Jauchzen der Sinne oder das adrenalinöse Reagieren des Körpers. Herz: Empfunden ist es mehr, mehr als das simple Denken. Das Fühlen ist ein Musizieren der Seele in den grauen Windungen des Gehirns.
Kopf: Ich denke kein Gefühl. Ein Gefühl besitzt - einfach weil es das allgemeinste Instrument zur Übermittlung von Inhalten ist - ja, eben von Wirklichkeiten, deren es so viele, so unendlich viele wie Menschen und Wesen gibt - oder weiss ich denn tatsächlich über die Wirklichkeit meines Gefühls Bescheid ? Gut, Gefühl besitzt einfach einen Spielraum der Übermittlung von Inhalten, Herzchen.
Herz: Gefühl ist eben accelerando, a tempo, adagio, allegro andante, grave, crescendo, sforzato, largo, lento, marcato, mezzoforte, forte, sostenuto, presto, riterdando, espresso, scherzando, resoluto oder dolce oder contabile. Gefühl ist eine unbeschreibliche Vorstellung der Welt noch einmal, des Himmels noch einmal, der Hölle noch einmal, des Schmutzes noch einmal, der Sauberkeit noch einmal, der Schönheit noch einmal, jener Schönheit des Taus auf den Blättern am frühen Morgen eines Herbst- tages.
Kopf: Gefühl ist eine vergängliche Grösse, die ihre Wirklichkeit stets verliert und nie mehr erzeugt als es ist. Herz: Das Gehirn denkt doch nur, dass es denkt, Köpfchen ?
Kopf: Blödsinn. Es gibt Leute, die fühlen, dass ihre Sinne sie vom Wirklichen, vom Wesen trennen. Dieses Gefühl in ihnen vergiftet ihre anderen Sinne. Was ich sehe, macht mich blind. Was ich höre, macht mich taub. Das, worin ich wissend bin, macht mich unwissend. Dass ich nicht lache, Herzchen.
Herz: Du bist unwissend, insofern und wieviel Du weisst. Das ist Deine Scheuklappe und Du siehst dadurch weder die Nacht noch ein Licht, Du lieber Wirrkopf.
Herz: Hier schliesst sich der Kreis mit dieser seltsamen Umkehrung. Die Erkenntnis als Wolke vor dem Wesen; die leuchtende Welt als Augentrübung und Dunkel.
Nimm alles weg, damit ich sehe.2Sie schauen einander an und lächeln.
Gehen Sie mit zur Lesung von Paul Wühr ?
Begleiten Sie mich ins Theater ?
Darf ich Sie einladen ?
Bitte.
Wissen Sie, das Schönste im Theater war und ist der eiserne Vorhang mit seinen Bildern. Oder der Kronleuchter in der Mitte der Decke. Oder die Logen. Der Rahmen.
Das Schönste an der Literatur ist, dass man sie weglegen kann, wann und wo man will.
Prosit. Mit Bierdosen kann man schlecht anstossen, nicht, sagt Krakauer. Auf Ihr Wohlsein.
Wie heissen Sie ?
Krakauer. Zumindest nenne ich mich so. Und Sie ?
Gerty MacDowells.
Sympathisch, aber gelogen. Joyce.
Meinen Sie, Krakauer ?
Sie wissen meinen Namen ?
Ja. Sie haben ihn gesagt.
Und Sie haben sich ihn gemerkt.
Krakauer sieht wie im gegenüberliegenden Lokal die Stühle auf die Tische gestellt werden.
Eines habe ich nie begriffen, sagt Krakauer, warum man in den Cafés die Tische umdreht, ich meine, die Stühle umgekehrt auf die Tische stellt.

Um morgens den Fussboden zu kehren.3Gehen wir ?III. Das Idyll des BewusstseinsWas ist das Bewusstsein denn ?
Etwas, das verloren geht, wenn man es erklärt.
Krakauer und die Dame betreten das grosse Gebäude am Ring, in der Nähe des Volksgartens.
Es ist seltsam, nicht zuletzt, weil gegenüber von ihm, auf der anderen Seite des Platzes das gleiche steht. Es hat nichts Düsteres an sich, gleichsam freundlich seltsam, durch seine Grösse. Eigenartig, denkt er, immer habe ich das selbe Gefühl, wenn ich es sehe. Vom Platz aus macht das Gebäude den Eindruck eines Ministeriums der Jahrhundertwende oder früher. Grau, versteinert, imposant.
Wie heissen Sie wirklich, fragt er die Dame.
Raten Sie.
Welcher Buchstabe ?
V wie Vater, Vogel, Vehikel, Versprechen.
Versprechen. Meinen Sie unter Versprechen einen Fehler der Aussprache oder eine Zusage ?
Etwas Psychisches ?
Aha, Versprechen, so wie Verbrechen. Was verdrängen Sie denn, wenn überhaupt ?
Nichts. Namen sind Tabu. Der Mensch betrachtet seinen Namen nicht als Etikett, sondern als Teil seiner Persönlichkeit. Dasselbe tun auch Kinder.
La belle inconnue4, denkt Krakauer.
Und haben Sie keinen Namen ?
Doch. Aber irgendetwas soll doch unbekannt bleiben, nicht, Herr Doktor Krakauer ?
Woher wissen Sie, dass ich Doktor bin ?
Sie geben sich so, Krakauer.
Gut.
Was ist gut ?
Ich nenne Sie Lana. Auf lateinisch Wolle. Ein zweideutiges Wort. Willen und Wolle. Ein Imperativ.
Warum kommen Sie auf Lana ?
Es hat eben etwas Zweideutiges und etwas Wärmendes, Weiches.
Noch was ?
Wolle gibt es in allen Farben.
Es ist auch etwas Natürliches, nicht, Krakauer ?
Nicht immer.
Sie betreten das grosse Haus.
Das Erdgeschoss ist eine riesige Eingangshalle mit einer breiten Treppe in das oberen Stockwerk.
Es schwebt ein leichter Geruch von Geschichte in der Luft, denkt er. Es mag tatsächlich sein, dass es die alten Mauern sind, doch es riecht unbekannt, nach etwas Neuem, das ich nicht kenne. Seltsam.
Er blickt Lana, wie er die Frau nennt, von der Seite an. Sie findet es befremdend und beginnt zu reden.
Ein Angler kann nichts dazutun, dass der Fisch anbeisst. Er muss schon für den richtigen Köder sorgen, Krakauer. Er muss den richtigen Platz wählen, die richtige Stunde. Der Rest ist Zufall, mein Lieber. Auch die noch so grosse Geschicklichkeit, mit der er die Angel handhabt, bedeutet wenig. Verstehen Sie, Krakauer ?
Wenn ich das zu verstehen glaube, was sie sagen, meinen Sie sicher etwas ganz anderes.
Aha. Was meine ich denn ?
Krakauer denkt darüber nach, dass er sich nicht verständlich machen kann. Sobald er etwas sagt, gibt er - wie es ihm erscheint - allem anderen Raum, nur nicht dem, was er sagen will.
Ja, was meine ich denn, fragt er halblaut.
Ich ? Ja, Sie. Was meinen Sie denn, Lana ?
Stets habe ich auch eine Vorahnung, jedesmal eine Vorahnung der Missverständnisse, denkt er. Das Missverständnis ist plausibler als das, was ich meine. Ich bewege mich wie in einem Zug, einer Lokalbahn des Denkens. Es ist ein Zug, der - obwohl ich will - in keinem Bahnhof stehen bleibt. Das Begreifen, dass ich missverstanden werde, hat nichts besonderes mehr an sich. Es ist eine Art von gewohnter Enttäuschung. Der Zug bleibt nicht stehen. Ich, ja, ich stehe am Bahnhof, will aus- oder einsteigen, doch der Zug fährt. Jedesmal fährt er vorbei und ich stehe da.
Vor zehn Jahren habe ich am Land gelebt, beginnt er ohne Einleitung und wendet sich zu Lana.
Es war an einer Grenze, an der tagtäglich Grenzer und Soldaten das schützen und überwachen, was eben die Grenze ist.
Bei einem Bauern, der Wein ausschenkt, und bei dem ich öfter einkehrte, kam auch hie und da einer der Grenzsoldaten.
Er war anders als die anderen. Kein Berufssoldat.

Wir gingen öfter gemeinsam ein Stück des Weges. Einmal setzten wir uns auf einer Erhöhung am Rande des Weges nieder und rauchten, er billige Zigaretten, ich eine Zigarre.
Wir blickten ins Land und sahen die Bauern die Felder pflügen.
Soldaten bauen kein Getreide und backen kein Brot, sage ich. Gäbe es nur Soldaten auf der Welt, wäre sie eine Wüste.
Ja, antwortet der Grenzsoldat und lacht. Ich bin Student und erfülle hier nur meine Pflicht.
Und was ist ihre Pflicht ?
Das Land zu schützen. Vor Eindringlingen, sagt er und macht eine grosse Handbewegung gegen die Felder, das ferne Dorf und den Wald, der am Horizont beginnt.
Ich verstehe.
Was verstehen Sie ? Der Soldat fährt sich mit der Hand über die Stirne.
Die Wirklichkeit, scheinbar das Gegebene.
Nicht einmal wir selbst sind uns gegeben, werfe ich ein. Und was wir Wirklichkeit nennen, ist doch nur ein Bild dessen, was wir sehen. Der Himmel wölbt sich, weil unsere Augen es sehen.
Ein Narr ist der, der glaubt, einen Krieg anzetteln zu müssen, zu Gunsten der Wirklichkeit von Soldaten.
Mit einer Handbewegung, als vertreibe er etwas, antwortet er:
Ein Narr ist der, der glaubt, ein Soldat sein zu müssen, zu Gunsten der Wirklichkeit eines Krieges.
Sind Sie das ?
Nein. Ich bin zu dem verurteilt, was ich tue. Und verstehe es nicht. Ich bin gegen den Krieg.
Wie ein Bauer gegen den Hagelsturm ?
Mit einem Lächeln, das um Verzeihung zu bitten scheint, wendet sich Krakauer an die Dame:
Probleme tauchen auf und sterben wie Tierarten, meine Liebe.
Gehöre ich Ihnen ?
Warum ?
Weil Sie 'meine' Liebe gesagt haben.
Nein.
Schweigend gehen beide die breite Treppe hinauf.
Mein Kopf, mein Herz, mein Leben, denkt Krakauer.
Mein Hund, mein Hemd, mein Diener, meine Zigarren, meine Frau, mein Feind, meine Freundin, mein Schmerz, mein Irrtum, mein Leben, mein Geist, mein Verstand, mein Gott. Hol`s der Kuckuck.
Wenn einer meinen Anzug anziehen würde, gäbs einen Wirbel, nicht meinen, einen Wirbel, denn mein Anzug steht keinem anderen zu, denkt er weiter.
Wir haben denselben Körper, könnte der Dieb sagen. In der Tat, wenn es so wäre, könnten wir den Anzug nur durch den Schweissgeruch unterscheiden. Mein Schweissgeruch unterscheidet sich von seinem. Eigentum. Der Geruch markiert. Das ergibt ein natürliches Besitzdenken, obwohl mein Eigentum sich nur durch meinen Schweissgeruch vom anderen minimal unterscheiden muss. Ich verändere die Sache, indem ich sie gebrauche. Dadurch wird sie mein Besitz, ein Stück von mir. Grundvorausetzung für zufällige Feindschaften. Und wenn einer oder eine meinen Geist annehme ?
Gäbs auch einen Wirbel, denn mein Geist steht keinem anderen und keiner anderen zu. Wir haben den selben Geist, könnte sie sagen. In der Tat, wenn es so wäre, weil wir aus der selben Kultur stammen, können wir tatsächlich unsere Geister nur durch unsere Körper unterscheiden ? Mein Körper und ihrer ?
Da gibt es natürliche Unterschiede, natürliche Gegnerschaften und natürliche Ergänzungen, obwohl mein Körper sich auch durch seinen Geist, der meiner ist, von ihrem Körper und ihrem Geist unterscheidet. Ich verändere meinen Geist durch meinen Körper, durch mein Geschlecht, indem ich es oder ihn gebrauche. Dadurch wird der Geist ein eigenartiges Stück von mir und ihr Geist ein eigenartiges Stück von ihr.
Krakauer steht minutenlang neben der Dame, ohne sie anzublicken.

Der Egoist
Er beginnt zu reden.
Genauer betrachtet ist mein das, was es nur einmal gibt. Was unterscheidet einen Anzug, der in der Auslage hängt, von dem, den ich kaufe und nachhause trage ? Es ist mein Anzug, nicht ? Und mein Geist und ihr Geist. Mein Geist. Aber was hat sich an ihm wirklich verändert ? Offenbar nichts, denn der Anzug ist jetzt ebensowenig mein Anzug als kurz davor, wo er noch der Anzug des Kleiderhändlers gewesen ist.
Was unterscheidet meinen Geist vom Geist der Welt und von Ihrem ? Ich muss der Sache, dem Ding eine Eigenschaft von mir verleihen. Ich muss als Eigentümer klar erkennbar sein.
Was meinen Sie denn ? Ich nehme Ihnen nichts weg.
Doch, irgendwie schon. Und ich Ihnen, Lana ?

Was denn ?
Wie gebe ich meinem Geist eine Eigenart? Mehr oder weniger so etwas Eigenartiges wie der Körpergeruch ? Ist es das Ego? Ist es das Ich ? Das Ego. Das Ego ist die Eigenart.
Genau betrachtet ist der weitaus grösste Teil von dem, was ich als mein bezeichne, nur in einem sehr blassen, oberflächlichen Masse meines. Es ist mein, nur weil ich es provisorisch behaupte.
Wovon reden Sie, Krakauer ?
Von unseren Geistern.
Geistern ? Glauben Sie daran ?
Von Ihrem Geist und von meinem.
Aha.
Und, was sagen Sie dazu, meine Liebe ?
Was meinen Sie damit, Krakauer ? Mit meine Liebe ?
Ich denke, stören Sie mich nicht, Lana.
Warum ? Was empfinden Sie ?
Die Art der Anrede unterstreicht die Abhängigkeit oder Unabhängigkeit, nicht mehr und nicht weniger. Das Wort mein steht für eine Empfindung.
Für welche, Herr Krakauer ?
Wenn ich meine Liebe sage, meine Liebe, ist es eine Empfindung des Beinhaltens von etwas, in dem Fall Sie, Lana.
Können Sie das nicht einfacher sagen, lieber Herr Krakauer ?
Unter Umständen drückt sich damit nur meine Hilflosigkeit aus. Würde ich zu Ihnen statt meine Liebe nur Liebe sagen, klänge das doch anmassend. Ist es nicht so, Liebe?
Bin ich nicht.
Eben. Was sind Sie dann ?
Eine Bekanntschaft.
Die Freiheit beginnt damit, dass die Unfreiheit eingesehen wird, meine Dame.
Ich bin nicht ihre Dame.
Nein, natürlich nicht. Aber eine doch ?
Und Sie ?
Die Freiheit ist genauso gross wie die Einsicht in die Unfreiheit. Kein Zweifel, mein und die Freiheit lassen sich nicht decken. Besitz ist Diebstahl.
Sie sind ein Egoist, sagt die Dame.
Kann einer Egoist genannt werden, der gefallen will?
Wenn er gegen einen in Opposition ist schon.
Wie Du mir, so ich Dir, ist doch kein egoistischer Satz, so wenig wie der Satz: Die andern machens ebenso. Cosi fan tutti. Allerdings wenn ich sage: Was hilft es mir, wenn ich die ganze Welt gewinne und meine Seele Schaden nimmt. Das ist ganz schön egoistisch, nicht, Lana ?
Naja. Der Teufel ist kein Egoist, ich weiss. Er will uns doch verderben.
Ebenso der Tyrann, der Besserwisser, der Demokrat ? Weder der Neid noch die Eifersucht ist dem Egoisten gegönnt. Er darf weder jemanden nachmachen, noch mit einem anderen in Wettstreit treten. Der reine Egoist ist der, der sich ausschliesslich um seine Angelegenheit kümmert. In seiner Position kommt der andere, in unserem Falle die andere oder Sie gar nicht vor.
Sie sind unhöflich, mein Herr.
Bin ich nicht, bin ich nicht. Doch.
Warum ?
Also gut. Wir waren beim Egoisten. Es lässt sich leichter sagen, was ein Egoist nicht ist als was er ist, Krakauer. Es gibt, meine ich, weder eine positive noch eine negative Defintion von ihm. Er wird in erster Linie danach trachten, sich selbst zu beherrschen. Die Welt und die anderen bleiben ihm gleichgültig. Er will eben nur sich erobern und ist damit das Gegenteil zum Altruisten. Sich selbst gegenüber unnachgiebig, ist er den anderen gegenüber eher gleichgültig.
Was Sie nicht sagen ? Sind Sie doch keiner, verehrter Krakauer ?
Keine Ahnung. Ich rede doch nur davon.
Hoppla, Freund.
Ja. Ich weiss, dass jeder Versuch, dem anderen Gewalt anzutun, meine eigene Freiheit verringert. Der Egoist ist die personifizierte Toleranz.
Sie sind doch einer ?
Sie fängt zu lachen an und legt ihre Hand auf seine Schulter.
In so grossen Zusammenhängen kann ich nicht denken, mein Lieber.
Man kann denken, so weit man tun kann, meine Liebe.
Und ?
Altruisten sind kostspielig; was wir brauchen sind bessere Egoisten.5Vielleicht sind wir es beide, Krakauer ?Beide sind auf dem ersten Treppenansatz angelangt und blicken zurück in die grosse Eingangshalle.
Ein Museum übt eine grosse Anziehungskraft auf alles aus, was Menschen tun, nicht ? Der Mensch, der Werke schafft, der Mensch, der stirbt, füttert es. Alles endet an der Wand oder im Schauschrank.
Ich kann mich nicht enthalten, an eine Spielbank zu denken, die bei jedem Umlauf gewinnt, 6 sagt er.Dinge, die in ein Museum gelangen, werden aus ihrem Leben gehoben, sie werden ihrer Welt beraubt und somit ihrer Bedeutung. Der Weg ins Museum bestätigt den natürlichen und auch den widernatürlichen Tod eines Wesens, er vollzieht den Eintritt in eine schattenhafte, begrenzte Unsterblichkeit, verleiht dem Ausgestellten etwas von einem Zombie.
Epochen suchen immer ihre Fassaden. Ein Charakter wird zur Schau gestellt, in all seinen Verirrungen, in seinen Verdammnissen und Hoffnungen.
Museen, Friedhöfe. Wahrlich identisch in dem unheilvollen Durcheinander von vielen Körpern, die einander nicht kennen. Öffentliche Schlafsäle, in denen neben Feinden Freunde ruhen.
Oder absurde Schlachthöfe für Maler, Bildhauer, Künstler, Tiere.
Gut gehen wir.
Beginnen wir damit, meine Liebe, und zeigt auf eine Tafel, auf der Mineraliensammlung steht. Oder gehen wir zu den toten Tieren ?
Gut, fangen wir mit den Tieren an, betreten wir den Friedhof, Krakauer.
Sie steigen die nächste Treppe hinauf und betreten den ersten Saal.


Das lückenhafte Bild der Seele

Mein Wahrnehmen ist ganz und gar der Laune der Welt oder des Weltteils in dem ich mich grad befinde, dem Schwall und Gedränge von Dingen, Menschen, Stimmen und Mienen, Erscheinungen und Erinnerungen unterworfen. Darum ist mein Bewusstsein nie fertig und macht mich eher unzufrieden als zufrieden. Unabänderlich hält es mir vieles verborgen und stellt Dinge her, die ich nicht sehen will.
Wenn ich jetzt mit Lana nach vorwärts gehe, so eilt mein Bewusstsein zurück und ich bin plötzlich eingekeilt in die Gedanken, die in mir aufgestiegen sind.
Wir befinden uns in einem Museum, dem naturhistorischen Museum, in einem Saal, voll mit Vitrinen mit ausgestopften Tieren. Walrosse, Elche, Hirsche, Rehe, Pythonschlangen und Blindhörnchen, Pelikane und Fische, sagt Krakauer.
Sicher. Alles seelenlose Gegenstände.
Die Seelen sind davongeflogen.
Er deutet auf eine der Vitrinen.
Sie setzen etwas voraus, was nicht bewiesen ist. Seelen, gibt es sie wirklich ?
Es gibt Hüllen. Wir und die Tiere.
Unsere Seelen heben uns gleichsam im Sinne eines Artrassismus über den Schlamm der Tierwelt hinaus.
Das ist grauenhaft.
Lana nimmt eine Broschüre und beginnt zu lesen:
Plumplori oder Kukang ist ein Halbaffe von der Grösse einer Katze. Er lebt auf den Sundainseln und ernährt sich von Insekten, Eidechsen, Vögeln und Früchten. Der Schlanklori oder Dünnleib ist klein und rostbraun gefärbt. Er bewohnt Südindien. Potto kommt in mehreren Rassen vor. Er lebt ähnlich wie der Lori und stammt aus Westafrika. Der senegalische Ohrenmaki ist so gross wie ein Eichhörnchen. Er kann seine grossen Ohren während des Tagesschlafes gefaltet nach hinten zurücklegen. Der gewöhnliche Nachtaffe oder Mirikina ist 35 Zentimeter gross und hat einen 50 Zentimeter langen Schwanz. Der graue Wollaffe misst bis zu 70 Zentimeter. Die Eingeborenen am Amazonas nennen ihn Kapparo oder Barrugido. Der Faunaffe oder gehaubte Kapuziner lebt in grösseren Gruppen ebenfalls in Südamerika. Der Bunder oder Rhesusaffe kommt in Indien vor. Der Bärenmakak, die schwarzgrüne Meerkatze, der Madras-Hulman, der Massaibabuine, der Tschakma, der Drill und Mandrill, der Lar oder Weisshand-Gibbon, der Orang-Utan , der Schimpanse, der Gorilla.7Sie geht langsam an der Vitrine vorbei und zählt die Namen auf.
Alle seelenlos, nicht ? Hüllen ?

Die Seele, der Begriff Seele, hat im Laufe der Zeit die eigenartigsten Abwandlungen erlebt. Heute ist es vielleicht ein Diagramm im Computer, ein Reflexbogen war es doch schon einmal.
Freud ?
Als Physiologe, ja.
Es klingt sehr technisch.
Plato nannte die Seele die sich bewegende Wesenheit, Aristoteles, das beständige Wirken, Pythagoras die Harmonie, Possidonius die Idee, Hippokrates den feinen Geist, Heraklit das Licht, Zenon die Zusammensetzung von Körper und Geist, Demokrit den Geist der Atome, so etwas wie die Quarks.
Gell-Mann ?
Haben Sie Physik studiert, Lana ?
Nein.
Gut. Empedokles nennt die Seele das Blut, Parmenides Erde und Feuer, Anixemenes die Luft, Xenophon Erde und Wasser, Tiere waren die Verkörperung der Seelen. Tiere, ja, Tiere.
Was Sie nicht alles wissen, Krakauer. Haben Sie das studiert ?
Nein. Doch. Irgendwie.
Also was ?
Je nachdem, ob die Tiere gute Dienste leisteten, wurden sie verehrt. Die Syrer liebten die Fische als Götter, die Assyrer die Tauben. Seelenwesen.
Seelen, ja. Eine Sammlung von Seelen. Götter und Tiere.
Schlangenseele. Tigerseele. Krämerseele. Menschenseele. Beamtenseele. Frauenseele. Mutterseele. Volksseele. Tierseele.
Wenn Seele nur ein Wort ist, so wird wohl der Sitz der Seele der Sitz dieses Wortes sein, insoweit jedes Wort mit seinen Assoziationen einen bestimmten Sitz im Gehirn hat. Zumindest beim Menschen. Behauptet man. Wo ? Bei wem ?
Na, im menschlichen Gehirn.
Das Innere eines Fussballs nennt man doch Seele, nicht ?
Und was ist der Geist ?
Erdgeist. Plagegeist. Kampfgeist. Freigeist. Kirschgeist. Menschengeist. Untertanengeist. Schöngeist. Krämergeist. Schwärmergeist. Feuergeist. Angriffsgeist. Zerstörungsgeist. Zeitgeist.
Ein Geist ist ein Körper besonderer Art.
So ein Geist ist auch die Seele. Zart, hell, luftig.
Vielleicht ist aber die Seele doch kein Körper, sondern nur die Ursache körperlicher Erscheinungen ? Die Bauchseele, die Brustseele und die Kopfseele und die Seele unter der Gürtellinie ? Die Körperseele. Solange wir über etwas reden können, gibt es das.
Und wenn wir nicht mehr darüber reden, Frau Lana ?
Dann tun wir etwas.
Etwas Seelisches ?
Oder etwas Körperliches.
Wie meinen Sie das ?
Ein Satz ist ein sprachlicher Ausdruck, mit dem sich die Verbindung mehrerer Vorstellungen in der Seele eines Sprechenden vollzogen hat, und das Mittel dazu, die Verbindung der Vorstellung in der Seele des Hörenden zu erzeugen. Alles klar, Frau Lana ?
Nein. Was soll daran klar sein ?
Krakauer nimmt ihre Hand und hält sie in seiner.
Schauen Sie, erwarten Sie tatsächlich so etwas wie Intimität von mir ?
Lana nimmt ihre Hand aus der seinen und geht weiter, bis beide sich durch die Glasvitrine sehen. Das ist schon längst eingetreten, mein Lieber.
Tatsächlich ?
Was fangen wir damit an ?
Lassen Sie unsere Seelen dahinfliegen.
Sicher, was sonst ?
Krakauer hebt den Arm.
Sehen Sie, dort fliegen sie.
Und wir bleiben zurück.
Sie geht weiter.
Das Glück ist keine leichte Sache. Wie der Tod. Es ist sehr schwer, es in uns selbst, und unmöglich wo anders zu finden,8 denkt Krakauer und folgt ihr.10.In 24 Stunden hat er etwa zehn Sätze von sich gegeben, sagte Dutch. Was war geschehen, frage ich.Es hat ihn erwischt. In einer Toilette. Man hat ihn erschossen. Von hinten. Wer ? Wir wissen es nicht. Und ? Ja, deswegen waren wir ja bei ihm. Die letzten Stunden. Was hat er gesagt ? Er hat behauptet, es war Joey Jankovicz. Aber der ist ja tot. Wer war es dann ? Das wollten wir doch wissen. Was hat er gesagt ?
Einmal: Mit seiner schmierigen Pfote hat er in die Tasche gelangt, Joey und... da habe ich ihn.. Jankovicz war doch tot !
Dann hat er geschwiegen.
Wer ?
Na, McIntosh.
Wer hat mit der schmierigen Pfote nach der Tasche mit dem Geld gelangt ? Woher weißt Du, daß es gerade eine Geldtasche war ?
War es eine ?
Du hast es eben gesagt.
Ich ? Natürlich war es eine Geldtasche.
Woher weißt Du das ?
Joey, antwortete ich.
Der ist tot.
Wer hat auf ihn geschossen ? Das wollen wir von Dir wissen.
Von mir ?
Ja, von Dir.
Du hast auch Joey Jankovicz auf dem Gewissen. Gibs`s zu, Mann. Ich, frage ich lachend. Mich hat es doch selbst fast erwischt.
Wer ?
McIntosh. Dich ? Der blaue Lieferwagen. Wie bei Joey Jankovicz. Ein blauer Lieferwagen ? Woher weißt Du, daß es tatsächlich ein blauer Lieferwagen gewesen ist ?
Das war so.
Du warst es, Du, Mann. Du hast alle auf dem Gewissen. McIntosh, Joey und.....
Wen noch, frage ich.


11.

Von einer kleinen Bar in der Innenstadt rufe ich das Krankenhaus an. Ich gebe mich als Journalist aus und frage die Dame bei der Vermittlung, wie es McIntosh ginge. Aus purer Gewohnheit vermittelte sie mich mit der Stationsschwester.
Der Zustand sei noch immer sehr ernst, sie könne nichts genaues sagen. Ich bedanke mich höflich und lege auf.
Also, er lebt.
Nach zwei Tagen war er tot.
Und wo war das Geld ?
McIntosh und Jankovicz hatten keine Bedeutung mehr. Tote Männer mit verkrampften Fäusten, Kadaver, ausgekühlt. Der eine auf der Straße im Auto, der andere auf einer Toilette, weiß gekachelt. Sie waren auf ihre Art gestorben. Wahrscheinlich hatten sie Forderungen gestellt und hatten sich den Tod eingehandelt. Da sie irgendwem, ja, auch mir, ein zu großen Hindernis gewesen waren, sind sie erledigt worden. Ihr Tod konnte jederzeit eintreten und er ist eingetreten, weil es notwendig war. Man könnte es den finsterem Herz einer Stadt wie dieser zuschreiben.
Ich höre Schritte auf der Treppe und fahre so schnell hoch, daß ein Schmerz meinen Körper durchzuckt, als wühlte einer mit einem Messer in mir. Ich warte, bis das Schlimmste verebbt, dann gehe ich zur Tür, die nach draußen führt und stelle mich dahinter. Es ist Radu. Einer von den Brüdern, Radu oder Vlado mußte am Leben bleiben, wenn ich das Geld wollte. Und ich wollte es. Schließlich war es meines. Ja, meines. Ein schmaler Lichtstreifen wird sichtbar zwischen der Türe und der Schwelle, und ich lege meine Hand auf die Klinke.
Er ist fast schon heran, Radu, ein Mann in Grau, der jederzeit unter einer Menschenmenge untertauchen kann mit Brille und Aktentasche und blauen Augen, die etwas Tierisches an sich haben.
Ich sehe ihn durch die Türlinse und warte.

Alles ist bei mir ein Gewirr von Gefühlen, nicht festzulegendem Erleben und Chaos. Ich kann keine Ordnung herstellen. Ununterbrochen versuche ich diesen Zustand, die Situation zu ändern. Wie ein Abhängiger. Manchmal glaube ich, dass es gelungen ist. Meistens passiert das Gegenteil. Ich verstricke mich immer mehr. Wo ? In einem Labyrinth.
Wir wissen nichts von uns, wir wissen nichts vom anderen, Frau Lana, sagt er laut und geht hinter ihr her. Wir spielen alle das Spiel, wer etwas weiss, ist klug, und das Etwas verwirrt sich in den Sätzen. Ich warte, Herr Krakauer.
Auf was ?
Ich warte auf den Eindruck von Worten. Auf eine gefühlsmässige Äusserung, auf irgendein Stück von Ihnen, mein Lieber.
Warum sagen Sie nichts ?
Ich tue es ja. Jetzt oder ?
Krakauer geht auf sie zu und blickt ihr in die Augen.
Und ?
Wo ist denn Ihre Seele, wo denn, Herr Krakauer ?
Seele ? Das haben wir erledigt.
Sie, vielleicht.
Also, Seele ?
Es ist ein Gefühlszustand.
Aha.
Reagieren wir nicht auf Grund von Gefühlen ? Sympathie ist ein Gefühl. Sozialsein ist ein Gefühl. Ideologien sind Gefühle. Wahrnehmung ist ein Gefühl, ja, auch die Wirklichkeit ist ein Gefühl. Sie sind ein Gefühl.
Ich ?
Ja, Sie, Lana. Ein gutes Gefühl.
Spüre ich etwas davon, Krakauer ?
Das müssen Sie wissen.
Ja, ich spüre etwas.
Auch hier vor den unzähligen Tierleichen wird ein Gefühl übertragen. Es schwingt im Raum. Der Tod, die Ewigkeit. Der Exhibitionismus. Oder der Voyeurismus.
Es sind unsere Gefühle oder ihres.
Ich ? Ich will nicht nur ihre Gefühle, ich will auch gut behandelt werden von Ihnen, Frau Lana. Allein dass ich hier mit Ihnen durch die Leichenhallen der Natur spaziere, beweist, dass Sie von mir gut behandelt werden.
Sie reagieren auf mich, sie behandeln mich nicht.
Gut behandelt werden, was ist das ? Ist das so etwas wie: ich sage: Hipp und Sie sagen: Hopp ?
Es heisst wohl. Ich bin da und Sie sind hier.
Wir sind hier. Sicher.
Sie verstehen doch den Ausdruck Gefühl, nicht ? In Ihrer Bedeutung verwende ich ihn, Lana.
Und was ist das ? Meine Bedeutung ?
Das wissen Sie doch.
Etwas Seelisches ?
Natürlich, was denn sonst. Wenn ich sage, Sie haben schöne Augen, so können Sie mich fragen: Was finden Sie an meinen Augen schön ? Und ich würde antworten: Es sind Ihre Augen.
Die Sprache hat für alle die gleichen Fallen bereit, mein Lieber. Das gute Netz gangbarer Irrwege.9Die Seele ist so etwas wie eine Farbe, die wir nicht ganz beschreiben können, weil sie sich als Farbe dauernd ändert. Die Seele ist ein Chamäleon, ein Wesen, das sich färbt, je nach Erforderung und Bedarf.
Und was ist mit der Farbenblindheit, Krakauer ?
Ja, es gibt Farbenblinde, die ihr ganzen Leben nichts davon wissen. Und es gibt Seelenblinde, die von ihrem Zustand nie etwas erfahren.
Dann ist es auch keine Blindheit. Natürlich nicht. Erst wenn der Seelenblinde einem beseelten Menschen begegnet. Den Farbenblinden gibt es auch nur, weil es Farbensehende gibt.
Aber so sicher ist es doch nicht, dass die Farben tatsächlich so sind wie wir sie sehen ?
Es hängt von vielen Umständen ab. Von der Dämmerung, vom Inneren, vom Öffnen der Augen, von der Deutung des äusseren Reizes. Und vom Gefühl, das wir entwickeln.
Und das Seelische hängt das nicht auch von äusseren Umständen ab, vom Gefühl ?
Sicher, vom Alter, vom Inneren, vom Zuhören, von der Deutung dessen, den man vor sich hat. Von Ihnen. Von mir ? Sie müssen sich entscheiden. Entweder ich oder das Museum.
Es kann eben ein totes Tier sein, ein Kunstwerk oder ein Mensch. Jetzt sind es Sie. Eine Frau.
Ja, eine Frau. Oder Sie, ein Mann.
Eben.
Kommen Sie, geben Sie mir die Hand, gehen wir ein Stück.
Sie gibt ihm die Hand und sie gehen die Vitrinen entlang.


Zurück zum Schatten

Sie gehen durch die grossen Säle mit den Decken und Wandgemälden, vorbei an den Schaukästen, Bildern, den ausgestopften Tieren.
Von draussen, durch die doppelflügeligen Fenster fällt die Dämmerung.
Es ist ein dämmriges, altes Schattenhaus; in das kein Strahl aus der Wirklichkeit des Lebens fällt. Wir werden in den Zimmern und Sälen umhergeführt, wandern durch die Gänge, mehr oder weniger ohne unseren Willen. Wir sind nur hier, weil, ja weil wir es sind. Wir bewegen uns zwischen Leichen und Phantomen. Sobald wir dann in die Welt des Alltags zurückkehren, haben wir nur mehr eine flüchtige Wahrnehmung und Erinnerung von diesem Totenreich, denkt er.
Aber warum bin ich hier ?
Ich bin mit Frau Lana hierher gegangen, um mit ihr irgendwohin zu gehen.
Wenn die Phantasien dieser Räume jene Elemente sind, welche mein Bewusstsein bestimmen, werden mein Sehen, mein Hören, Fühlen, ja mein Denken durch verdichtete, verschobene und symbolische Bilder ersetzt. Und wenn ich denke, variiere ich nur die Wahrnehmungen.
Auf dem Grad der Sympathie, den ich gerade Lana gegenüber empfinde, droht die Grenze zwischen mir und ihr zu verschwimmen. Aller Wahrnehmung zuwider behaupte ich, dass Ich und sie eins sind, zumindest im Denken, im Geist. Und ich bin bereit mich auch so zu benehmen als wären wir ein Geist.
Doch aber kann ich nur annehmen, dass er, unser Geist, meiner üblichen Einsamkeit gegenüber einen zerstörten Bezug zur Wirklichkeit erfahren hat. Oder zumindest zu dem, was ich in letzter Zeit für Wirklichkeit gehalten habe.
Wodurch ?
Durch den Zufall einer Begegnung ?
Mein Verstand muss die Sympathie, die ich spüre, als Verrücktheit sehen. Ist es ja auch. Meine mich lange Zeit beherrschende Weltauffassung wird gesprengt und meine Person, mein Ich dazu.
Ich bin doch nicht verliebt ?
Nein, nur das nicht.
Ich bin mit einem Menschen befasst. Ich befasse mich mit ihm über das Reden und er, der Mensch befasst sich mit mir über das Reden.
Der Einzige, nämlich ich, legt keinen Wert mehr auf sein Eigentum.
Und was ist mein Eigentum ?
Das Ich.
Die Sympathie, dieses Gefühl, muss ich - wie es scheint - mehr oder weniger erarbeiten, verdienen. Solange die Wirklichkeit meines Ichs die sichere Erfahrung war und diese neue Erfahrung eines anderen Ichs, nämlich ihres, unerfahren ist oder keine Bestätigung erfährt, tritt eine Verunsicherung ein. Gleichsam wie ein Schwall aus dem Unterbewusstsein. Meine Erfahrung, der gegenüber es zweifellos sinnlos ist, von einem gemeinsamen Ich oder Geist zu reden, die aber erhalten werden muss, die andererseits gleichermassen die Unsicherheit meines Selbst bedingt, ist eben das Gefühl, das ich erleben und bestätigt haben will. Ja, sicher von ihr, von Lana.
Ist dies aber nicht möglich, falle ich in einen Schatten.
Gebe ich mich hin, schwäche ich mein Selbst. Eben auf diesem Weg wird die Wirklichkeit zu einer gefürchteten fremden Welt, der gegenüber ich mein Selbst, mein Ich schon längst nicht mehr gegenüber sehe. Ich arbeite, wenn ich so denke, an der Zerstörung eines Gefühls,ist es nicht so ?
Es gibt sicher einen einfachen anderen Weg. Nämlich das Ganze zu einem Spiel zu machen. Ein kleines Bauernopfer. Der Sprung mit dem Pferd. Der Turm. Der Läufer. Alles gegen die Dame der Spielpartnerin Lana. Damit verzichte ich auf jeden Anspruch von Glück.
Sollte ich mich nicht aus guten und vernünftigen Gründen heraushalten und normal bleiben ?
Lana bleibt stehen.
Sagen Sie doch was, Krakauer.
Ich denke, ich denke.
Was ?
Ich denke über den Begriff Sympathie und Gefühl.
Und ? Was kommt dabei heraus ?
Gedanken, Lana, Gedanken.
Welche Gedanken, Krakauer. Über alles und nichts. Sie wissen es doch ?
Was soll ich wissen ?
Wie das ist ?
Was ?
Na, Sie wissen schon.
Verstehen Sie, Lana ? Sie sind sympathisch.
Und ?
Nur so.
Also was ?
Ach, nur so.
Also was nun ?
Ach, jeder ist ein überaus luftiges Gebäude. Verstehen sie das ?
Was ?
Jeder ist ein überaus luftiges Gebäude.10Oder ein altes Haus.Es gibt weder eine absolute Identität der Subjekte, Objekte, noch eine der Menschen, des Ichs.Des Ichs ? Sie sind doch wer oder ?Das Ich ist sicher, das Ich. Verstehen Sie, Lana ?Das Ich. Ein seltsames Phänomen, eine zeitlich definierte Art von Sicherheit.Wovon reden Sie überhaupt, Krakauer ?Wer seinen Körper nicht nur als Individualität, sondern vor allem und bloss so als Form betrachtet, als fremdes Strombett für unaufhörlich wechselnde Moleküle und Molekularbewegungen, der wird als verrückt erscheinen.
Aber Sie sind nicht verrückt, lieber Krakauer ? Mein Ich. Wahrscheinlich, die Absage der Individualität und des Ichs.
Ich tue ihnen doch nichts.
Wenn ich, nämlich ich, mein Ich, wenn ich esse, denke, kämpfe, liebe...
Tun Sie das ?
..so handle ich als Individuum und kümmere mich einen Teufel um die Erkenntnistheorie. Ich halte den Schein der Individualität für Wirklichkeit.
Sie sind wunderbar, Doktor Krakauer. Ich ist ein Anderer, sagt Rimbaud, meine Liebe.
Ich lebe es, das Andere.
Tatsächlich ?
Und wenn das Messing als Trompete aufwacht, ist es seine Schuld ?
Nein, sein Glück.
Und die Milch als Käse ?
Absicht.
Und eine Frau als Ehefrau.
Oder ein Mann als Liebhaber ?
Schicksal.
Jeder, jeder, auch Sie, sind ein überaus, ein überaus luftiges Gebäude, Lana. Das Ich ist gross im Erfinden von Verdruss. Dem Ärgsten,allem Terror zugeneigt, auf alles Masslose versessen, leichtgläubig, was den Erfolg betrifft.
Sagen Sie doch einfach, dass Sie glücklich sind, Krakauer.
Aber Sie wissen doch, die Psychologie ist ein Handikap.
Brauchen wir die Psychologie ?
Beim Reden schon. Oder wenn wir einen Spass haben wollen.
Aha.
Was ?
Aha.
Wenn man die Frau, verstehen Sie, die Frau als Mythos einerseits und als solchen akzeptiert..
Was denn, was denn ? Die Frau, ein Mythos ?
Ja, wenn man die Frau als Mythos akzeptiert, andererseits dem Manne sein selbstgefälliges Rollendilemma vorwirft, Sie wissen, was ich meine, die Homosexuellen, die Muskelmänner, die grauen Männer und so, also, wenn man das Facettenspiel akzeptiert, und die Frau als Mythos sieht..
Hören sie auf, Krakauer.
Über das Ich gibt es im gleichen Masse wie über die Liebe, über die Sexualität kaum etwas Sinnvolles zu sagen. Psychologie ist ein Handikap. Sie haben recht. Wollen wir darüber sprechen, werden wir gut daran tun zu schweigen oder ? Nehmen Sie es ernst ?
Das Ich ist ein Gedankengebärer und Gedankenzerstörer, es frisst Gedanken.
Meinen Sie das Triumvirat Überich, Es, Ich ?
Langsam wie es einem Verstorbenen gebührt, trete ich meinem Ich nahe, diesem Mörderich.
Wissen Sie, irgendwann wird man geboren, dann beginnt man zu krähen, was einem vorkräht wird, man hackt und frisst, was man einander vorhackt und vorfrisst, irgendwann sagst man ich, ich, ich, die Illusion des Wollens und Willens, alles, aber auch alles ausstaffiert mit Psychologie bis zum Überdruss. Bis zum Überdruss. Tatsache ist, dass man als Einzelner der menschlichen Rasse etwas nie zu Enträtselndes ist, ein Rätsel bleibt man bis zum Tode und darüber hinaus. Von überall drängt es nach, Sterben, Geborenwerden, Fressen, Gefressen werden, und alle picken nach einer bestimmten Hackordnung wie die Hühner.
Sie stolpern ihren eigenen Stürzen davon, lieber Krakauer.
Es geht doch nur um die kleinen, verlorenen Freiheiten,um die Freiheiten, die sich jedes Ich nimmt. Zurecht, zurecht.
Die Freiheit im Schatten, nicht, Lana ?
In welchem Schatten ? Im eigenen ?
Man muss sich das Ich erhinken, schreiten kann man da nicht, Lana.
Glauben Sie das wirklich, Krakauer ? Warum sind Sie nicht zufrieden ? Wir haben es doch gut, mein Lieber, nicht ?


1.Yeats: the second coming

2.Paul Valery, Herr Teste

3.James Joyce, Ullysses, Seite 667, 1957

4.Oscar Wilde, Lady Alroy in: Die Sphinx ohne Geheimnis

5.Albrecht Fabri, Der rote Faden

6.Paul Valery, Über Kunst

7.Stanek, Das grosse Bilderlexikon der Tiere

8.Chamfort, Caractères et anecdotes

9.L. Wittgenstein, Vermischte Bemerkungen

10.Walter Serner, Letzte Lockerung


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