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Wort, Schrift, Druck

Kommunikation im Wandel

© by Ernesto Hofmann
Monitoring mit freundlicher Genehmigung des Autors
1. Von der gesprochenen zur geschriebenen Sprache: Mündliche Tradition und Schrift
1.1 Ethik und Kommunikation
1.2 Vom Wort zur Schrift
1.3 Die Rolle Platons

1. Von der gesprochenen zur geschriebenen Sprache

1.1 Ethik und Kommunikation

·^· Der Mensch war immer auf der Suche nach Prinzipien, die es ihm ermöglichen, sein Leben zu organisieren und ihm einen Sinn zu geben. Die ersten konzeptuellen Systeme aller menschlichen Kulturen legen den Platz des Menschen im Universum fest - durch Prinzipien ethischer Art. Die Verhaltensregeln, die aufgrund solcher Prinzipien festgelegt werden, übernehmen eine grundlegende Rolle, nämlich die, Zusammenhalt und Effizienz in einer bestimmten Gruppe von Individuen zu bewahren. Die hebräische Tradition etwa beruht auf dem Prinzip eines Bündnisses zwischen Mensch und Gott, wobei dieses Bündnis Autonomie für beide Seiten vorsieht. Letztere bedeutet auch Verantwortlichkeit und gerade das Prinzip der Verantwortlichkeit des Menschen ist ein grundlegendes Element bei fast allen Religionen. Da das Thema dieses Essays die Analyse der Rolle der Kommunikationssysteme ist, ist es sicherlich wichtig, den Zusammenhang zwischen Kommunikation und Ethik zu untersuchen.

Das Bedürfnis, sich nicht nur mündlich und durch Gesten, sondern sich auch schriftlich zu verständigen, entsteht, sobald sich die Menschen in höheren Gesellschaftsformen als den ursprünglichen Jägergruppen der Jungsteinzeit zusammentun. Wir werden noch sehen, daß die Annahme des Alphabets ein Phänomen ist, das mit dem Aufkommen politischer Systeme einhergeht, die höher entwickelt sind als die ägyptischen Monarchien oder die des Mittleren Ostens, in welchen die Teilnahme der Kollektivität an Entscheidungen immer mehr zunahm. Die Annahme des Alphabets, das ist eines Lautsystems, mit dem die verschiedenen konsonantischen und vokalischen Laute umschrieben werden, ist eine Errungenschaft der griechischen Kultur, auch wenn das Verdienst ganz allgemein den Phöniziern zugeschrieben wird: ..damit haben die Griechen als erste der Menschheit eine ökonomische und vollständige visuelle Darstellung der menschlichen Laute geliefert.(1) Für unsere Analyse der Entwicklung der Kommunikation in der Gesellschaft haben die Griechen eine noch bedeutendere Rolle gespielt. Als erste haben sie den gedanklichen Apparat zu Wort gebracht, der das ganze ethisch-bewußte Gebäude des Europäers stützt. Unsere heutige Gesellschaft wäre unbegreiflich und unwirksam ohne das sokratisch-platonische System, in welchem die Vernunft der Entscheidungsträger in den verschiedenen moralischen Bedürfnissen der Gesellschaft ist, und außerdem die Wahrheit als identifizierbares Faktum existiert. Das griechische Gedankensystem ist für die europäische Kultur Quelle Nummer eins von Ideologien und technischen Systemen. Ich glaube, daß wir im Guten wie im Schlechten den Griechen Schuldner einer Verhaltensweise sind, und zwar der Objektivierung der Realität und zugleich der Individuierung des Ich, die die europäische Kultur grundlegend von anderen großen Kulturen wie der chinesischen unterscheidet. Die westliche Tradition ist ganz durchtränkt vom Konzept des Logos in Ansehung dessen, was dieses so vielseitige Wort bedeutet. Unsere Kultur gründet sich auf die Ausdrückbarkeit, auf die einheitliche deutliche Aussprache von Welt und Geist.(2)

Die chinesische Tao-Kultur gründet sich hingegen auf das wu ming, auf das Unausdrückbare.Während das westliche Denken dahin tendiert, sich verbal zu äußern, zeichnet sich das östliche durch seine Unausdrückbarkeit aus. Eine Analyse der menschlichen Kommunikation muß, in bezug auf ihre Entwicklung in der westlichen Kultur, von Griechenland ausgehen. Diesbezüglich meint Heidegger:...der Älteste kann, in Ansehung seiner Ursprünglichkeit und des bindenden Charakters, den er für unsere Geschichte und die folgenden Entscheidungen erhält, der erste in Rang und Reichtum sein. Nun ist dieses absolut ursprüngliche Element für uns das Griechentum ... unter denen, die diese Meinung vertreten, gibt es keinen einzigen, der die geringste Vorstellung der Tatsache hat, daß es auch im Griechentum selbst einen Anfang gebe und wie dieser beschaffen sei.(3) Wir werden gerade auf den Anfang des Griechentums zurückgehen müssen, um die Elemente zu erkennen, welche zur Bildung jenes Gedankensystems beigetragen haben, aus dem die moderne Technik hervorgegangen ist. Das erste System von Werten, um die herum der progressive gesellschaftliche und gedankliche Zusammenhalt der Griechen zustande gekommen ist, beruht sicherlich auf der Einheit jener sogenannten mythischen Wahrheiten, die den Aufbau eines Ganzen an Normen, das von Generation zu Generation übermittelt werden mußte, ermöglicht haben. Die Überlieferung des Mythos und der Normen desselben war eine soziale Tätigkeit hohen Grades. Viel mehr als um Ideen ging es im Mythos um Handlung; diese übemahm die Rolle eines Paradigmas für Verhaltensweisen in Situationen wie Kriegen, familieninternen Konflikten, Geburten, Todesfällen und Hochzeiten. Der Dichter, der durch seinen Vortrag dieses Ganze an Vorfällen vermittelte, gab in der Tat die Wahrheit weiter, um die sich jene soziale Gruppe scharte. Das moralische Denken geht also, gemäß seiner eigenen Natur, aus der Geschichte hervor und funktioniert gerade nach Traditionen und kultureller Verankerung. Ein Vater muß die eigenen Kinder den anderen vorziehen, genauso wie eine Nation auf die eigenen Bürger achtet. Die Mythen haben eben diesen Zweck, solche Verhaltensweisen zu rechtfertigen. Ein großer kultureller Zusammenhalt, der gewöhnlich mit einem Widerstand gegen die Assimilation anderer kultureller Elemente einhergeht, kann sehr wirksam sein, wie es uns etwa heute das japanische Beispiel zeigt. Und doch zeigt sich das heute durch die immer engeren Kontakte zwischen verschiedenen Kulturen durch die modernen Kommunikationsmittel so aktuelle Problem des kulturellen Relativismus (4) schon in der griechischen Kultur.

Die griechischen Philosophen haben als erste das Problem des Ethno-Zentrismus erkannt. Die Unterscheidung zwischen Gutem und eigenen Interessen, Natur und Konvention, Rechtem und Gesetzmäßigem steht im Mittelpunkt der philosophischen Analyse des Griechen; aber Platons Antwort war nicht eine Analyse der anderen Kulturen, um zu erfahren, ob sie Träger des Wahren und Rechten sind. Der kulturelle Relativismus, einer der Hinterhalte unserer Zeit, war in seiner Denkweise nicht zugegen. Nach Platon hingegen muß der Mensch, wenn er sich selbst verwirklichen will, nach absoluten Wahrheiten suchen, welche es dann ermöglichen sollen, endgültig und ohne Zweideutigkeit, die Verhaltensregeln der vollkommenen Gesellschaft festzulegen. Auf diese Weise schuf Platon auch das ethische Prinzip, um das herum sich die europäische Kultur noch heute dreht: sie hat es nötig, die eigenen Werte zu rechtfertigen, die Natur zu erforschen - sie hat auch das Bedürfnis nach Philosophie und Wissenschaft. Die griechische Philosophie und vor allem Platon sind auch der Ursprung eines anderen Aspektes unserer Kultur, des objektivierenden Gedankens, der nicht nur absolute, sondern auch sprachlich ausdrückbare Wahrheiten erkennen will. Die Nachforschung des platonischen Sokrates dreht sich um die genaue und sagbare Definition von Konzepten wie Gerechtigkeit, Gutes und Tugend. Dieses Streben muß zum Beispiel zur Individuierung der Gerechigkeit in sich und nicht zu verschiedenen Beispielen derselben führen. Durch den Ausdruck können Denkprozesse in Form von mündlichen und schriftlichen Symbolen analysiert werden. Auf diese Weise schuf die griechische Philosophie die Grundlagen für eine progressive Mechanisierung des Gedankens selbst. Der aristotelische Syllogismus schuf die Basis für eine erste Axiomatisierung der Mathematik, die Geometrie Euklids, die eine der größten geistigen Errungenschaften des Menschen ist, aber auch das erste Beispiel von Mechanisierung der Denkprozesse. Auf diese Weise begann sich das Wahre mit dem Aufzeigbaren nicht nur zu vermischen, sondem sogar zu identifizieren. Die Vorteile dieser Aufgabe, die der Intellekt bekam, sind enorm: Daraus gehen die gesamte Wissenschaft und Technik natürlicherweise hervor; wir müssen jedoch auch darauf achten, welche und wieviele Gefahren eine derartige Aufgabe in sich birgt. Die moderne Technik, deren Vorteile allgemein nicht zu leugnen und ausschlaggebend für unseren Wohlstand sind, kann ihrerseits Quelle von schwerwiegenden Folgen sein.(5,6)

Die Analyse von genetischen Mechanismen etwa, die von einem Wunsch nach reinem Wissen ausgeht, hat unter ihren Zielen auch die Eliminierung von "Arbeitsunfällen" wie genetischen Mißbildungen. Die genetische Manipulation wird eine heitere Natur anbieten können, ohne Abenteuer, gemäß festgelegten Standards. Ein zu geregeltes und extrem rationales Universum kann aber auch jenes sein, in dem der Schritt vom Erlaubten zum Obligatorischen selbstverständlich wird. Die zentrale Frage ist immer noch die, ob es eine absolute Wahrheit gibt und ob diese identifizierbar ist. Die Wahrheit, in einem ethisch-kulturellen Kontext wie im westlichen, der immer darauf aus ist, seine Werte zu definieren und zu rechtfertigen, muß die Gerechtigkeit mit einbeziehen. Ein weiteres Mal zeichnet Platon das vor, was die Hinterhälte unserer totalitären Ideologien sein können. Trasimachos verficht in der"Politeia" (341,a) die These, daß Gerechtigkeit, das zu tun bedeutet, was dem Stärkeren Vorteil bringt.

Diese These wird von Sokrates verworfen, aber in einer analogen Form, nämlich in den "Gesetzen" (690,b), wo der Athener, also Platon, sagt: ...der Weise denkt und befiehlt, der Unwissende gehorcht. In diesem Jahrhundert haben wir in Europa mit Schrecken die Behauptung und den leider nicht sofortigen Zusammenbruch der nationalsozialistischen und der leninistischen Ideologie erlebt, die Gerechtigkeit und also auch Wahrheit nur als Ausdruck von Macht verstanden haben. Die Propaganda und die Kontrolle über die Kommunikationsmittel einer modernen Nation haben Hitler eine überraschende politische Beeinflussung großer Massen von Individuen ermöglicht. Aber dann haben es dieselben technischen Erneuerungen der Kommunikationsmittel ermöglicht, die Wahrheit wiederherzustellen, zuerst beim Nationalsozialismus, dann beim Leninismus. Was geschah, hätte Orwell überrascht. Gegen Ende der vierziger Jahre hatte Orwell, in einem pessimistischen Geistesblitz über die Zukunft der westlichen Gesellschaft, in seinem Werk "1984" eine Gesellschaft vorausgesagt, in der die Wahrheit mit der Macht absolut gleichgesetzt wird. In dieser unserer Analyse über die Rolle der Kommunikationsmittel, ist die Hypothese Orwells sehr suggestiv, da sie uns noch einmal zum ursprünglichen Thema zurückbringt: zur Sprache und ihrer Evolution.

In Orwells Gesellschaft greift der Superstaat in die menschliche Sprache ein, da in ihr Gedanken- und Gefühlswelt ablaufen. Wird also die Sprache abgeschwächt, bekommt der Staat die individuellen Wünsche unter seine Kontrolle. Die"newspeak" ist gerade die Sprache, in der kein Gedanke versteckt werden kann. Wie ich bereits gesagt habe, wäre Orwell heute überrascht. Nationalsozialismus und Leninismus sind in der Zwischenzeit so diskreditiert, daß man sich fragt, wie sie so viele Millionen Menschen in ernsthafte Erwägung gezogen haben. Die Wahrheit scheint ein weiteres Mal in Bewegung, gerade durch jene Kommunikationsmittel, welche eine ihrer totalitären Versionen erdrücken wollte. Dies führt uns zu den anfänglichen Betrachtungen zurück: Die Annahme des Alphabets geht mit der Enstehung eines politischen Systems, des griechischen, einher, in dem die Teilnahme des Individuums an den Entscheidungen der Gemeinschaft fundamental war. Alphabetismus, Kommunikation und Gerechtigkeit sind sehr eng miteinander verbunden. Dies wird der Schlüssel der Lektüre der folgenden Betrachtungen sein. Um diese Einleitung zu beenden, werfen wir noch einen kurzen Blick auf die aktuelle Situation der Alphabetisierung. Nach Istat-Daten lesen 22% der Italiener nichts; vier Millionen Familien besitzen kein einziges Buch; 7% der Akademiker lesen nach Studienabschluß praktisch kein Buch mehr, in der führenden Gesellschaftsschicht sind es bis zu 30%. Diese überraschenden Werte treffen zum Teil auch in den anderen westlichen Ländern zu. Es drängt sich die Frage auf, ob es einen Zusammenhang zwischen modernen Kommunikationstechniken und dieser neuen Art von Analphabetismus gibt. Dieser ist ein sehr komplexes Phänomen und auf verschiedene Ebenen verteilt. Es gibt eine neue Art von Analphabetismus der Kinder, die sich nicht nur beim Schreiben, sondern auch beim korrekten Sprechen schwertun. Der immer größere Gebrauch von Kommunikationstechniken, die die Bedeutung des Visuellen aufwerten, hat eine Abschwächung der auditiven Funktion, die bei den Kindern absolut grundlegend ist, zur Folge: Man denke an die intellektuelle Atrophie, an der ganz allgemein taubstumm geborene Kinder im Gegensatz zu blind geborenen leiden.

Dann gibt es einen Analphabetismus auch der gebildeten Erwachsenen, der wieder einmal von der Tatsache verursacht wird, daß man auf das Buch verzichtet, um größeren Gebrauch des Visuellen in kommunikativer Funktion zu machen; die Informatik akzentuiert übrigens dieses Phänomen. Ein Personalcomputer bietet ein sogenanntes"Gebrauchszwischengesicht" nicht nur durch die Tastatur, sondern auch die mouse, optische Leser und scanner. Die Abwendung von der Kultur des Buches hat das Aufkommen eines Menschen zur Folge, der zwar in seinem Beruf auch in sehr hohem Maße spezialisiert ist, aber einen Mangel vor allem an geschichtlichen Kenntnissen aufweist; deshalb ist er sehr empfänglich für die von einem immer aggressiveren Marketing aufgezwungenen Moden und vor allem eine kritische Reflexion von nicht unmittelbarem Nutzen nicht mehr gewohnt. Wir müssen aber auch immer die Tatsache präsent haben, daß der Erwerb neuer Kommunikationstechniken niemals schmerzlos ist. Derselbe Platon, der in der "Politeia" der Prosa gegenüber der Poesie und dem Text gegenüber dem Wort eine so große Bedeutung gab, erlebte doch gegenüber der Schrift eine zweideutige Beziehung, wie der heutige Durchschnittsmensch gegenüber der Elektronik und vor allem gegenüber dem Computer. Sokrates sagt zu Phädrus: ...wie du froh bist, deinem Sohn eine seiner natürlichen entgegengesetzte Fähigkeit zu schenken. Denn diese Erfindung, die Schrift, wird, indem sie die Menschen der Übung der Gedächtniskraft beraubt, das Vergessen in den Seelen jener, die ihre Kenntnis erwerben werden, hervorbringen. Wenn sie überdies, ohne Unterricht, Informationen im Überfluß erlangen werden können, werden sie glauben, in Vielem kompetent zu sein, auch wenn sie in Wirklichkeit vielmehr inkompetent bleiben werden... Pessimismus und Ambiguität sind typische Verhaltensweisen des Menschen vor veränderten Situationen. Aber gerade in Zeiten großer intellektueller Veränderungen erbringt der Mensch sein Bestes. Nietzsche etwa sagte es so: Nie tanzt Damokles besser, als unter dem Schwert. Heute befinden wir uns vor einer schwindelerregenden Änderung in der Kommunikationsweise. Die Bedeutung dieser Änderung zu erfassen, wird erst nach ihrem Vollzug möglich sein. Aber wie es uns Heidegger rät, müssen wir ohne Vorurteile achtsam mit dem Phänomen umgehen: ...wenn wir das Wesen der Technik betrachten, erfahren wir ihre Charakteristik (die Natur als Objekt zu setzen, das man nach einer Begründung fragt) als ein Schicksal der Enthüllung. Auf diese Weise befinden wir uns schon im Bereich der Freiheit des Schicksals, die uns durchaus nicht in eine dumpfe Einschränkung schließt, wegen der wir uns der Technik blind hingeben müssen, oder, was dasselbe ist, uns umsonst gegen sie wehren und sie als Werk des Teufels verurteilen. Im Gegenteil: Wenn wir uns wirklich dem Wesen der Technik öffnen, finden wir uns unerhofft von einem befreienden Appell gerufen. (7) Im restlichen Teil dieses Essays und in den zwei nächsten, werde ich versuchen, die Evolution der menschlichen Kommunikation zu untersuchen, um dem Leser einige Bezugspunkte und einen Interpretationsschlüssel, der übrigens nicht der einzige ist, zu bieten, um vor allem die Rolle des für die menschliche Kommunikation vielleicht wichtigsten Produkts, das uns die modeme Technik zur Verfügung gestellt hat, zu verstehen: des Computers.

1.2 Vom Wort zur Schrift

·^· Das Kind ist eine lebendige Welt von Urgeschichte. Es bietet uns die einzige Möglichkeit, die Sprache während ihres Evolutionsprozesses zu betrachten. Der Ursprung der Sprache ist für den, der die Struktur des menschlichen Intellekts begreifen will, eine der größten und reizvollsten Aufgaben. Zu verstehen, wie sich die Sprache gebildet hat, würde die vollständige Rekonstruktion unseres Evolutionsprozesses verlangen; beim Kind haben wir davon eine leider zu knappe Zusammenfassung. Es ist aber für unsere Analyse von Bedeutung, weil es uns auch die Möglichkeit bietet, die Eigenschaften einer ausschließlich mündlichen Kultur zu analysieren. Das Sprechen ist ein natürlicher Vorgang, der kein Hilfsmittel, keine Technik braucht.Die Veranlagung der Kinder zum Sprechen zeigt sich in einigen wohlbekannten Charakteristika. Kinder lieben es, immer dieselbe Geschichte erzählt zu bekommen. Der Gefallen an der Wiederholung ist wahrscheinlich mit genetischen Elementen verbunden, die wir noch nicht genau kennen. Ein wiederholender Vortrag geht mit dem Rhythmus einher. Der für die Poesie typische Rhythmus verschafft uns sofortige Genugtuung, sodaß man glaubt, er hänge mit besonderen Reflexen des Zentralnervensystems zusammen. In der Tat führt das zu einem Kommunikationssystem, in dem der rhythmische Aspekt mit dem aussprechenden wetteifert: im Ritornell und schließlich auch in der rhythmischen Abfolge sind akustische Werte ohne Sinn das, was wirklich zählt, ein wenig wie bei den Liedern, die die heutige Jugend, ohne deren Sprache zu kennen, wiederholt. Der Gefallen, den uns der Rhythmus bereitet, ist also eine der Erklärungen, die uns verstehen lassen, wie in einer mündlichen Kultur die Niederlegung der Informationen in eine feste Form im wesentlichen durch die Poesie vor sich gehen kann, vor allem, wenn sie mehr gesungen als vorgetragen wird, wie es"Ilias" und "Odyssee" wurden, die nicht niedergeschriebene, sondern mündlich überlieferte Dichtungen sind - nach der hervorragenden Eingebung von Milman Parry in seiner Diplomarbeit 1928 in Paris. (8,9)

Die Schriftkunst kommt in Griechenland in zwei Anläufen auf. Heute haben wir Unterlagen, die es nahelegen, daß es in Kreta im zweiten vorchristlichen Jahrtausend zwei Schriften gegeben hat, die Linear A, die noch nicht entziffert und wahrscheinlich nicht griechisch ist, und die Linear B, die, wenn auch nicht von allen, der griechischen Sprache gleichgesetzt wird. Linear B-Inschriften fand man in einigen Teilen Griechenlands, was vermuten läßt, daß die Griechen vor dem Zustandekommen von"Ilias" und "Odyssee" die Schrift bereits kannten. In Wirklichkeit kennen wir heute keinen literarischen Linear-B-Text. Der Grund liegt offenbar in der Komplexität eines solchen Alphabets, das aus etwa neunzig Zeichen, großteils sehr komplizierten Silben, besteht. in einer Zeit, die wir heute dem griechischen Mittelalter gleichsetzen, in der höchstwahrscheinlich "llias" und "Odyssee" entstanden sind, ging der Gebrauch dieser komplizierten Schreibweise verloren. Wir haben in der Ilias einen Vers, der sich vielleicht auf die Schrift bezieht: ...und er schickte ihn nach Lykien, gab ihm unheilvolle Zeichen, - indem er viele Worte auf ein doppeltes Täfelchen zeichnete (6167/68).

In einer mündlichen Kultur aber genügt der Rhythmus nicht, die Einträufelung eines Textes zu bewirken; es braucht noch etwas anderes. Es handelt sich um ein Element, das ebenso an eine unbewußte Quelle von Gefallen von seiten des Hörers gebunden ist: das Erzählen von Ereignissen, vielmehr als die Erörterung von Ideen. Die Sänger, die eine Rolle von hoher kultureller Würde spielten, vermitteln die Gesamtheit an sozialen Unterrichtungen in Erzählungen voll von Rhythmus - während öffentlicher Feste. Um die Wirksamkeit der Mechanismen für die Einflößung ins Gedächtnis zu erhöhen, war es nötig, auf psychologische und emotive Effekte zu bauen, wodurch die Identifikation zwischen Hörer und Sänger eine uns heute vielleicht unbegreifliche Intensität und Beteiligung erreichte. Unser alphabetisiertes Bewußtsein tut sich schwer, die mündliche Kultur zu verstehen, genauso wie wir uns schwertun, die Sprache der Kinder zu begreifen. Deshalb erscheint uns die ursprüngliche griechische Sprache in ihrer Unmittelbarkeit so fremd. Das Fehlen eines schriftlichen Sprachgerüsts wirkt sich in einem völligen Mangel an abstrakten Ausdrücken aus. Viel mehr als Theorien sind die Verse der "Ilias" von sozusagen agonistischer Art: die Aussagen sind vor allem von Lob oder Tadel und in Abfolgen einer Technik strukturiert (Parataxe), in der die Sätze durch Wiederholungen der Konjunktion "und" aufeinanderfolgen. Oftmals kommen, als Hilfsmittel für die Einprägprozesse, Formeln vor, die nötig sind, einen konstanten und gleichmäßigen Rhythmus zu garantieren. Wenn er etwa spricht, ist Odysseus immer schlau (polymètis); dies dazu, einen Vers aufrechtzuerhalten, in dem das Verb variieren kann: metephè p. Odysseus, oder prosephè p.0.. Der Leser braucht nicht einmal das klassische Griechisch zu kennen, um den Akzent, den hervorragenden Rhythmus des homerischen Verses herauszuhören. Die Übersetzung aus einer solchen Sprache, die so verschieden von unseren gegenwärtigen ist, die viel weniger unmittelbar und vor allem viel weniger reich an Bewertungen von Ereignissen und Personen durch das Verb "sein" sind, bringt enorme Probleme mit sich: ...unser Verstand muß, bevor er übersetzt, sich selbst in das, was auf Griechisch gesagt ist, übersetzen...(10)

Der Übergang von mündlichem zu geschriebenem Text vollzieht sich mit Hesiod. Die"Erga kai hemerai" und die"Theogonia" sind sicherlich geschriebene Texte, aber sie spiegeln noch die Struktur der mündlichen Kultur wider. Es ist sicher interessant, daß Hesiod die verschiedenen Künste bzw. die Musen nicht auf Talent oder allgemeiner auf Begabung, wie wir es täten, sondern gerade auf die Erinnerung (mnemosyne) zurückführt, die bei der Überlieferung von Kultur in einer mündlichen Tradition so wichtig ist: ...dann verliebte er (Zeus) sich in Mnemosyne mit ihrem schönen Haar, und sie gebar die Musen mit ihren goldenen Kränzen, neun an der Zahl, denen Feiern und Freuden mit Gesang angenehm sind... (Theogonia).

Unter den Musen gibt es übrigens auch eine Hierarchie. Die erste unter ihnen, in bezug auf die Würde, ist Kalliope, die Mutter des Orpheus, die nicht zufällig die Muse der epischen Dichtung ist, das ist gerade jener poetischen Form, der die Aufgabe zugewiesen wird, die kulturelle Tradition zu überliefern, wie es eben "Ilias" und "Odyssee" taten. In denselben Jahren geht in Griechenland der Übergang von Wort zu Schrift mit einer so großen Vielfalt von kulturellen Phänomenen einher, daß wir angeregt werden zu überlegen, wie groß die Rolle der Sprache in bezug auf die Denkweise ist. Die Entwicklung in der Malerei, vor allem auf Vasen; die Geburt der Philosophie im Versmaß (Xenophanes, Parmenides, Empedokles) und in Prosa (Anaximander, Anaximenes und Heraklit); die progressive Entdeckung des Ich und des Konzepts von Gerechtigkeit (Dike) ; all das trägt dazu bei, eine kulturelle Änderung zu bezeichnen, der, in bezug auf ihre Großartigkeit, sich nur die Renaissance nähern kann. Mit dem Alphabet werden die Worte von Ereignissen zu Dingen. Während das gesprochene Wort eine ausfahrende Handlung ist, die auf den Gehörsinn bezogen ist, ist das geschriebene eine statische Größe, die durch das Auge wahrgenommen wird. Der Übergang vom Gehör- zum Gesichtssinn als wichtigstes Sinnesorgan hatte und hat immer noch enorme Folgeerscheinungen. Wie ich bereits gesagt habe, hat die Akzentuierung des Gesichtssinns überraschende Parallelen in der Entwicklung von Malerei und Mathematik. In der Malerei entdecken die Griechen zwar nicht die Perspektive, die in der Renaissance (nicht zufällig) zugleich mit dem Buchdruck aufkommen wird, aber etwas, das der Verkürzung ähnelt. Diese Art der Visualisierung auf Distanz wird in Griechenland auch eine Analogie in der Literatur haben mit der ersten Historiographie, die eine Art Visualisierung auf Distanz ist, nämlich die Vergangenheit von der Gegenwart aus gesehen. Im Feld der Mathematik ereignet sich etwas, das uns immer noch bezaubert - die Entdeckung der Irrationalzahl (das àlogos, also das Unausdrückbare). Indem die Arithmetik auf die Geometrie angewandt wurde (durch die Visualisierung der Zahl), kam es in der griechischen Mathematik zu einer Reihe von Widersprüchen und Paradoxa, welche zu lösen es ganze zwei Jahrtausende brauchte. Wir wollen hier zwar nicht Malerei und Mathematik analysieren, aber wir dürfen nicht ignorieren, wie sehr die verschiedenen intellektuellen Gebiete aufeinander einwirken und wie, letztlich, alles ein weiteres Mal im grundlegenden Element des menschlichen Geistes begründet liegt: in der Kommunikation und ihrer Entwicklung.

1.3 Die Rolle Platons

·^· Das Gesagte zusammenfassend, unterscheiden wir in der mündlichen Kultur drei grundlegende Elemente: Daten sind zeitliche Ereignisse, Episoden sind der Parataxe gemäß getrennt, und schließlich sind die angeführten Bilder sehr lebhaft, um ihre Suggestion zu betonen. Für Platon ist diese Art von Erkenntnis Meinung (doxa), nicht absolute Wahrheit (episteme); die Ereignisse (gignomena) sind viele (polla) und sichtbar (horata). Der Erinnerungsprozeß, in den das Publikum des Sängers einbezogen wird, ist vielmehr als eine Quelle von Wahrheit ein konstanter Illusionismus. Die zentrale Thematik der"Politeia" ist die Erziehung (12). Die Poesie ist nach Platon aus verschiedenen Gründen gefährlich. Ein Epos wie die "Ilias" erzählt von Handlungen, um die korrekten Verhaltensweisen anzuzeigen, aber all das hilft wenig, das Gesetz an sich zu erkennen: ..es gibt viele gute Dinge usw.... und schließlich, daß Schönes und Gutes an sich existieren; und so betrachten wir jetzt hingegen all die Dinge, die wir als viele betrachtet hatten, jedes in Bezug auf eine ldee, die wir als eine Einheit bezeichnen, und wir nennen jede das, was sie ist... (507,b). Dieser Passus aus der "Politeia" ist eines der grundlegenden Momente des europäischen Denkens. Platon verläßt Ereignisse, Beispiele und Metaphern um einer einzigen Identität willen, welcher er einen von ihm erfundenen Namen gibt: "Idee" (eidos, äußeres Aussehen). Platon bezeugt auf wunderbare Weise den Übergang einer Kultur vom gesprochenen Wort zur Schrift, vom Ereignis zur Formel. Es kommen neue syntaktische Beziehungen auf, in denen das Verb "sein" nicht mehr konjugiert wird, sondern sich wie in der Mathematik auf die Gegenwart fixiert. Der Himmel wird anders als bei Hesiod beschrieben, mit einem neuen Vokabular: ...man muß diese im Himmel verstreuten Ornamente, da sie auf einem sichtbaren Hintergrund ruhen, schon als die schönsten und regelmäßigsten unter dieser Art von Gegenständen beurteilen, aber auch als viel geringer als die wahren, im Verhältnis auf die Bewegungen der wahren Schnelligkeit und der wahren Langsamkeit... (529,d). Platon interessiert nicht der Lauf eines Menschen oder die Bewegung eines Pfeils, wohl aber die exakte Formulierung, nach der jede wie auch immer beschaffene Bewegung beschrieben wird. Die Idee ist für Platon keine Grenze sukzessiver Annäherungen - für ihn sind moralische Werte absolut und nicht annähernd. Für einen Griechen waren die Beziehungen unter den Menschen, also die Ethik, die wirklichen Grundmauern des Lebens. In der"Odyssee" erzählt Odysseus Alkinoos von seinen Abenteuern im Land der Kyklopen - er bezeichnet diese als ungerecht und grausam (9.106) und fügt hinzu (9.112): Sie haben keine Ratsversammlungen, keine Gesetze. Die ethischen Instanzen sind der Grundstein der"Politeia", deren Ziel darin liegt, ein Erziehungssystem für die perfekte Gesellschaft zu schaffen. Bei der Konstruktion dieses Systems aber trennt Platon als erster den Wissenden ganz scharf vom Wissen selbst: ... weiß der Wissende etwas oder nichts? ... ich werde antworten, daß er etwas weiß (476,e). Die Entdeckung und die Trennung zwischen Ich und Realität ist der Ursprung jener Objektivierung, die immer noch so tiefgreifend unsere Kultur durchtränkt. Die in moralischer Hinsicht so befehlende platonische Weltsicht kann in widersprüchlicher Weise interpretiert werden. Viele halten Sokrates (13) und Platon (14) für Feinde der Demokratie und für die ursprüngliche Quelle von totalitären Ideologien. Andere (15) kämpfen entschieden gegen eine solche Hypothese an. Sicherlich muß Sokrates zu seiner Zeit ein sehr strittiger Mensch gewesen sein, und Platon hat uns davon eine wahrscheinlich andere Erinnerung als etwa Xenophon in seinen "Memorabilia" hinterlassen. Wir können hier dieses Thema nicht vertiefen. Im Hinblick auf diesen Essay interessiert uns das Zeugnis, das uns Sokrates und Platon vom Übergang der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit geliefert haben. Platon läßt Sokrates, der nichts geschrieben hat, sprechen, aber in einer geschriebenen Prosa, in der wir ein beständiges Streben nach der exakten Definition jedes Ausdrucks haben. Nach Platon wird das westliche Denken lange Zeit eine fortgesetzte und vertiefte Lektüre derselben Themen sein. Die Schrift und mit ihr die Kultur des Buches werden sich immer mehr behaupten. Alexandria in Ägypten wird der klassische Gipfel dieser Kultur, aus der auch die römische hervorgehen wird, sein. Man wird bis zur Renaissance, das ist fast zwei Jahrtausende von Platon weg, warten müssen, um eine weitere wirkliche kulturelle Umwälzung zu erleben. Viele große Ereignisse werden fast zugleich vor sich gehen. Die erste Mechanisierung einer menschlichen Tätigkeit, das ist der Buchdruck, der im folgenden Artikel behandelt werden wird, wird unter diesen eine entscheidende Rolle spielen.
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