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HUMBOLTS REISE
roman
copyright by Franz Krahberger
ISBN 3-900647-11-9
part.1
Alles ist zur Kunst geworden, alles, und die
Flucht aus der Kunst ist ebenso Kunst. Die wildwuechsige Natur ist zu einer laecherlichen Farce
gegenueber dem menschlichen Ordnungsgeist geworden.
Die wildwuechsige Natur ist tot, traeumt Humbolt
in grossen Lettern. Uebrig bleibt der Dschungel
menschlicher Empfindung.
Auf der Flucht sein bedeutet, nicht mehr eingreifen koennen. Die Ereignisse und Verhaeltnisse
muessen hingenommen werden, wie sie eben sind.
Sie muessen als wirklich genommen werden, ohne
mit ihnen weiteres gemein zu haben.
Die Flucht, die ziellose Flucht, bewirkt eine Art
Geisteskrankheit. Sie gleicht einem hilflosen Dahintreiben, ohne Ufer vor Augen, aber auch ohne
zwingenden Grund des Sinkens. Die Flucht ist
eine Entsinnung, eine Entleibung aller Begriffe.
Durch den Hochwald gehen, bis unter den Kamm
des Berges. Sich eine Mulde suchen, angefuellt
mit Farnen, Graesern und Moos. Sich hinlegen,
in das Licht des Himmels sehen, an dem Geaest
der aufragenden Baeume vorbei und nach den
aus dem Wald hervorbrechenden Toenen und
Geraeuschen hoeren. Er spuert die Luft in die
Lunge stroemen, sich in Atem verwandeln, er
spuert die Ausdehnung des Koerpers. Ausweiten,
aufgehen ohne das Bewusstsein zu verlieren. Bis
dahin, wo es vollkommen gleich ist, ob das
Innere nach aussen oder das Aeussere nach
innen stroemt.
Humbolt traeumt weiter und steht vor einer
Mauer aus roten Ziegelsteinen, die ploetzlich in
sich zusammenfaellt. Dahinter unzaehlige Autowracks, Schwaden von Staub, zertruemmerte
Fabrikshallen, zerbroeckelnde Asphaltstrassenzuege, die sich nutzlos in der Ebene verlieren.
Unter dem Horizont haengt ein Spruchband.
Er bemueht sich, den Text zu entziffern und zu
verstehen.
>Am 5.Maerz des Jahres schlug der Kosmos zu.
In den magellanschen Wolken, 180.000 Lichtjahre von der Erde entfernt, fand eine Umordnung der Materie statt, die saemtliche bislang
bekannten Explosionen in ein milderes Licht
rueckt. Die Intensitaet der gemessenen Strahlung war um das fuenfzigfache staerker, als die
Dosis bislang bekannt gewordener kosmischer
Katastrophen.<
Die Schrift erlischt. Die ersten Sonnenstrahlen
wecken Humbolt. Sein Blick faellt auf die Titelseite der New York Herald Tribune.
Humbolt entdeckt das Prinzip der Unsicherheit,
die Unsicherheit dringt in sein Leben ein.
Ordnungen werden zu Unordnungen. Bestimmte
Wirkungen lassen sich nicht mehr auf bestimmte
Ursachen zurueckfuehren. Der kausale Zusammenhang erscheint ploetzlich in einem anderen Licht,
saemtliche Schriften ueber die Natur muessen umgeschrieben werden. Dogmatiker gehen scharenweise ueber Bord. Der Weltenplan entpuppt sich
als neurotisches Hirngespinst. Der Weltenbau
geraet in Unordnung und die Weltregierung geht
klaeglich zugrunde.
Die Groessen stimmen nicht mehr und die Strahlen
des Morgenlichtes loesen in Humbolts Augen
diffuse Farbtemperaturen aus, ineinander uebergehend, sich aufzehrend, neubildend und wieder
zerfliessend. Mit violetter Farbe gefuellte Vogelfedern dringen ins Gehirn und verfaerben es nach
Blasslila hin.
Humbolt ist zwiespaeltig. Das Einssein mit der
Natur ist ein Gedanke, die Wirklichkeit ein anderer.
Baeume, die mit Ausdauer Mauern durchdringen,
ueberzogen von Efeu. Seine Liebe gilt dem Einfall
der Pflanzen in die kuenstliche Welt des Menschen.
Humbolt hat Angst, Angst vor dem Tod der Natur.
Auf einer Bruecke stehen und warten, bis das
Wasser still steht und die Landschaft in Bewegung
geraet. Mit dem Auto durch das Land fahren und
Bild an Bilder reihen. Sich der Bewegung ausliefern, sich dem freien Spiel von Form und Ton
hingeben, sich hineinfallen lassen. Die Zeit still stehen lassen, keine Inhalte, keine Botschaften,
keine Erklaerungen erwarten.
Die Stille hoeren und den Gedanken an den Tod
verdraengen.
Der Wind weht durch das Dickicht und hebt den
Nebel auf, der ueber der Landschaft liegt.
Ostern verbrachte Humbolt mit Nona im
Norden.
Waehrend der Fahrt erzaehlte er seine Gedanken zur Leidensgeschichte Christi, eine
Theorie, die ihm auf dieser Reise einfiel und
sich in seltsamer Weise mit alten Mythen verknuepfte. Sie erschien als eine vollkommene
Verkehrung aller religioesen Werte. Jener Werte,
denen er in seiner Kindheit glauben schenken
musste. Der Tod Christi stellte sich ihm dar als
der Tod der Jugend, des jungen Mannes. Eine
Hinrichtung, die zugunsten des Vaters vollzogen
wurde. Marshall McLuhan notierte in einer seiner
Schriften, dass die aeltere Generation die juengere,
ihre Nachkommenschaft, in Krieg und Verderben
stuerze, um sich zu rechtfertigen. Nicht Oedipus
erschlaegt seinen Vater, Oedipus wird von seinem
Vater hingerichtet.
Die Mythen sind Tore zum Unterbewussten. Die
Geschichte, die sie erzaehlen, ist die Geschichte
unserer Verdraengungen, unseres Zornes, unser
er moerderischen Urtriebe. Diese Geschichte steht
im steten Widerspruch zur Kuppel humaner
Haltungen, die wir ueber diesem Abgrund errichtet
haben.
Die beiden fahren durch eine Landschaft, in der
alles gegenwaertig ist. Der Gekreuzigte, die ausgelaugten Alten, die unterdrueckten Jungen. Eingebettet in dunkle Waelder, unendliche Landstriche,
Kaelte. Karge Haeuser in tiefer Stille.
Und wieder fluechten wollen, zurueck in die Kind
heit, zurueck an den urspruenglichen Ort und
darin nichts mehr finden als eine Art Lagebestimmung der Herkunft. Das nicht mehr Dortsein
wird durch Geschichte ersetzt, wird zur Erinnerung.
In Bildern und Worten festgelegt. Ueberraschend
an den Strand des Bewusstseins gespuelt. Alte
Saetze tauchen auf, laengst durch Leben ueberholtes Sein, tektonischen Schichten gleich, laengst
von voellig anderer, in anderer Richtung verlaufender Entwicklung ueberlagert. So wird Leben
zur Erinnerung. Das Wesen von Geschichte und
Leben stellte sich als Gegensaetzliches dar, einander
ausschliessend. Geschichte erweist sich als retrospektive Konstruktion von Vorfaellen. Leben hin
gegen als eine Art Seefahrt, die manchmal dazu
noetigt, das Schiff auf hoher See umzubauen, ohne
ein Dock anlaufen zu koennen. Geschichte liegt
hinter uns.
Noch einmal den Berg hinaufgehen, den steilen Weg
in raschen, zuegigen Schritten hinter sich bringen.
Der Ort wird bei jeder offenen Wegbiegung ueberschaubarer, bis er klein, einem Relief gleich, in der
Tiefe liegt. Bevor der Weg sich ins Hochtal kruemmt,
wird er ueber die Landschaft hinwegschauen, ueber
Bergketten und massiv aufgerichtete Kalksteingebirge und die Landschaft wird sein wie gefaltete,
lederne Gesichtshaut mit grossen Poren, wie eine
menschliche Fleisch-, Haar- und Hautlandschaft.
Er wird an Lenz denken, an Lenz im Gebirg, auf
der Flucht aus den Staedten.
Aufsteigen bis in den Talkessel, bis zu den Knien
in Schnee versinken. Die Sonne wird aussehen wie
eine weissgluehende Scheibe.
Der Schnee, der glatte, weisse, kristalline Schnee,
wirft das Licht in vielfach gesteigerter Intensitaet
zurueck und blendet das Auge.
All die Klarheit dieser unwirtschaftlichen Land
schaft in sich aufnehmen, diese in gleissendes Licht
gehuellte Leere aus Stein und kargem Baumbestand.
So wie die Entfernungen mit zunehmendem Alter
abnehmen, verliert die Welt an Unendlichkeit. Die
kindliche Sehweise verwandelt sich in schaetzbaren
Massstab. Unueberbrueckbare Entfernungen werden
gangbar, bis sich der unendliche Kosmos aufs Neue
enthuellt.
Der Tod im Garten des Zen, einem alten aufgelassenen Steinbruch, in dessen Mulde gruen leuchtendes Wasser steht. Zwei, drei Steinbloecke ragen
aus dem Tuempel. Dahinter ruhiges, unbewegtes
Schilf. Daumengrosse Froesche tummeln sich am
Rand mit weiten Schwimmbewegungen. Der Blick
faellt auf eine Koenigskerze. In ihr haben sich ein
Dutzend Wespen festgekrallt. Bei naeherem Hinsehen bemerkt er, dass sie tot sind.
Vereinzelte Koepfe, von denen die Koerper abgefallen sind, haben sich in den gelben Blueten der
Pflanze festgebissen.
Ein Hirschkaeferweibchen liegt auf dem Ruecken.
Es zappelt noch, waehrenddem die Ameisen sich
daran machen, es bei lebendigem Leib aufzuzehren.
In den Tag zieht die Daemmerung ein.
Die Erschoepfung nimmt zu. Seit Tagen rufen die
geringfuegigsten Bewegungen unertraegliche
Schmerzen hervor. Zusammenhanglose Satzteile,
Worte ohne erkenntliche Zugehoerigkeit draengen
ins Bewusstsein, ohne Einsicht zu hinterlassen.
Das Gesicht Humbolts wirkt starr, verschlossen.
Die Augen ins Leere gerichtet. Alle auf ihn ein dringenden Augenreize setzen sich zu Irrlichtern
um.
Humbolt hat die Kontrolle ueber sich, ueber
seine Umwelt verloren. Er ist hoffnungslos diesem
unerklaerlichen Zustand ausgeliefert.
Nona liest einen Zeitungsartikel. Der Scheintote
liegt auf einer Bahre in einer der Kammern der
Prosektur, auf Wachsleinen gebettet. Die Haende
schlaff neben den Schenkeln. Aus seinem scheintoten Zustand wieder zum Leben erwacht, erzaehlt er, dass er einen Traum gehabt habe.
Er haette stundenlang an ein bronzenes Tor geklopft, ohne dass das Metall einen Ton von sich
gegeben habe.. Nachher habe ihm der Prosektur
diener, der rein zufaellig vorbeigekommene
Prosekturdiener, erzaehlt, dass sein kleiner linker
Finger in unregelmaessigen Abstaenden gezuckt
habe. Nur so waere man draufgekommen, dass
der Scheintote nicht tot, sondern, im Gegenteil,
noch am Leben sei.
Nona schreit Humbolt an, sie schreit ihm ins Ohr,
ins Ohr des in sich gekehrten, regungslos Verharrenden. Auf dem Tisch liegen Speisereste,
auf dem Boden zerbrochenes Glas. Das Kind
stammelt. Kurzarbeit fuehrt zum Verdienst
ausfall. Die Katze kruemmt sich. Der Baum ist
abgebrochen, glatt vom Blitz durchschlagen.
Die Nachtarbeiter schrecken zu Mittag aus dem
Schlaf. Der Erdrutsch hat den Weg versperrt,
ueber den Hang rieselt Sand und kollert Geroell.
Neues Erdreich schiebt nach. Ueber dem Weg liegt
ein Windwurf, die Wurzeln zeigen drohend bergwaerts.
Der Devisenhaendler unterbricht sein Gespraech
und greift zum naechsten Hoerer.
Humbolt laeuft die abfallende Dorfstrasse hinunter,
laeuft, stolpert, rafft sich auf, hastet, stolpert.
Seine Arme deuten wahllos auf Hauseingaenge,
Hausnummern, Wirts- und Geschaefts- schilder.
Hinter kleinen Fenstern, fuenfzig mal fuenfzig im
Quadrat, stehen schwarzgekleidete Frauen mit
schlohweissen, im Nacken geknoteten Haaren.
Sie sehen zu, wie Humbolt der Laenge nach auf
dem geschotterten Asphalt aufschlaegt, danach
ziehen sie die Vorhaenge vor die kleinen Fenster
scheiben.
Nona geht in die Kueche. Sie nimmt das Huhn
und legt es auf das helle, von Schnitten gezeichnete, durchzogene, roetliche Brett. Ihr
Daumen gleitet pruefend ueber das grosse
Tranchiermesser mit dem schwarzen Holzgriff,
aus dem die Nieten hell hervorleuchten. Sie
haelt das Messer in Richtung des Kuechen
fensters, in das eindringende Sonnenlicht und
trennt mit raschen und sicheren Bewegungen
die Teile des Huhns. Nur kurz sieht sie in die
starren Augen des Huehnerkopfs, die schmal
unter den herabgefallenen Lidern liegen. Mit
einer fahrigen Bewegung teilt sie die Innereien
und schneidet mitten in die Galle. Ueber die
rote Leber breitet sich die dunkle, gruenliche
Gallenfluessigkeit aus. Nona nimmt die Innereien , die Huehnerkrallen und wirft sie Humbolt
vor die Fuesse.
Humbolt hatte vor Tagen ploetzlich sein Fahrzeug im Kreisverkehr angehalten, war ausgestiegen und hatte den Schluesel weggeworfen.
Hinter ihm ballte sich drohend der Stossverkehr der Hauptstadt. Alle wollten auf dem
raschesten Weg nach Hause, um das Vorabend
programm des Staatsrundfunks nicht zu versaeumen.
Nona oeffnet die Betten, schliesst die offenen
Fenster. Dann hilft sie Humbolt aus dem Stuhl
und fuehrt ihn vorsichtig zu Bett. Sie deckt ihn
fuersorglich zu und loescht das Licht.
Humbolt liegt im Dunkeln und wehrt verzweifelt
den Schlaf ab. Er stemmt sich dagegen, bis er
vollends ermuedet und unter der Hoerschwelle
in den Schlaf versinkt.
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