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Humbolts Reise :
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part.3
Wien schmaelert den Blick und daempft die Stimmung. Diese Erfahrung war ihm nichts neues. Weiss
Gott, warum er gerade hier lebte. Wien stellte fuer
ihn die Abwesenheit vieler seiner wesentlichen
Empfindungen dar. Nur eines, mit den Menschen
konnte er hier reden, Gedanken wechseln. Die Welt
als abhanden gekommen sehen, und die Sehnsucht
danach wieder verspueren.
Der Winter war angebrochen. Eine uebermaessig
lange Foehnperiode haette es ihm anzeigen koennen,
aber er nahm es wie jeder in dieser Stadt nicht wahr.
Die Windboeen, die den Smog aus der Stadt jagten,
die Boeen, die an den Fenstern ruettelten, die Boeen ,
die Daecher entblaetterten und die Feuerwehren ausruecken liessen, hatte er verschlafen. Und als er auf
die Strasse trat, von seinem Arbeitsraum weg hin zu
Nona ging, spuerte er die Kaelte und nahm erschrocken
die Veraenderung wahr, die sich an den Menschen
vollzog. Die Farbe der Kleider und die Gesichter verschoben sich ins Duestere und Bleiche. Als er dann
abends bei Nona sass, einen Fernsehfilm vor sich und
Nona und das Kind schon lange schliefen, dachte er
daran, dass nun die langen Naechte kommen wuerden,
die Naechte des Wartens nach dem Wiederaufleben
der Natur, und er spuerte, dass er ein Jahr aelter geworden war. Der Wechsel der Jahreszeiten laesst das
Altern verspueren.
Wie wenig die technologische Welt auf diese Bewegungen eingeht. Der asynchrone Takt der Natur zur
Zivilisation laesst die Natur als fremd und stoerend
erscheinen.
Der Kultkalender der Bauern ist zu fragwuerdigen
Symbolen, deren Bedeutung niemand mehr nutzt,
verkommen.
Ueber das Leben wacht die digitalisierte Zeit, die uns
glauben machen soll, dass es Kontinuitaet und Dauer
gaebe.
Ueber die einfache Asynchronitaet, dem Fehlen von
Uebereinstimmung, von chronologischer Zeit und sinnlicher Naturwahrnehmung soll nicht nachgedacht
werden. Das gefaehrdet die kuenstliche Ordnung der
Zivilisation. Die kuenstliche Ordnung der selbstkonstruierten Maschinen, das Spinnennetz aus Technologie und Verwaltung, das zur realen Welt geworden
ist. Sie hatten die Welt der Natur verlassen und
waren zur technokratischen Ordnung uebergegangen.
Erst die Verschmelzung von Wahrnehmung und
Sprache laesst den Begriff entstehen. Die Reduktion
der Welt, ihrer vielfaeltigen Erscheinungsformen
fuehrt zur Verkuemmerung der Sprache.
Der gefuegte Begriff ist ein Analogon des Wirkenden.
Die Vielfalt der Sprachen der Welt sind Ausdruck
unterschiedlicher Umwelterfahrung und Umweltreaktion.
Sich wieder dem Kosmos sprachlicher Nuancierung
annaehern. Den Gesang verstehen, jenes synaesthethische Erlebnis von Farbe, Klang und Sinn. Aus
der Kaelte der Zivilsation in die Tiefen des Dschungels
eindringen, voll von schwirrenden, surrenden, sausenden Toenen, in ein atomares Echo, sich unendlich
reflektierend in immer neuen Variationen.
Er erinnerte sich an den Vers, den er bei Dante gelesen hatte, an jenes Bild ueber den Verlauf von
Wasserwellen, die von der Mitte zum Rand und
vom Rand zurueck zur Mitte eilen. Alle Bilder und
alle Sprache ist blosse Spreu gegenueber dem wirklichen Erleben.
Er glaubte damals, in das Wesen der mittelalterlichen
Meditationstechniken eingedrungen zu sein, eine
Vorstellung von der Reizung und Entfaltung der Sinne
gewonnen zu haben. Er hatte sich zur selben Zeit der
Sprache bemaechtigt . Sie stoerte nicht mehr. Der Sinn
begann mit der Sprache zu spielen.
Die Familie ist beherrscht von sinnlichen Genuessen
und der Gier nach materiellen Guetern, Friede ist
ausgeschlossen; staendig versinkt sie im Sumpf der
Leidenschaften; Geiz, Hass, Enttaeuschung, Zorn, Hochachtung, Selbstsucht. So Carlos Fuentes in >Nichts als
das Leben<.
Hier lebt eine grosse Familie, nur dass aus Zorn Verschlagenheit, aus Hochachtung Veraechtlichkeit und
aus Selbstzucht Gleichgueltigkeit wurde.
Die Bewohner dieser Stadt waren leicht zu irritieren,
weil die wenigsten von ihnen Klarheit ueber ihr
Leben hatten. Und waren sie einmal oder im schlimmeren Fall mehrmals verfuehrt worden, verschlossen sie sich kuenftig jeder Neuerung um so
mehr. Die Traegheit der Bewohner und ihre geradezu
rueckstaendig zu nennende Bildung leistet den entschiedensten, allerdings passiven Widerstand gegen
jeden, fast jeden Versuch der Neuerung. Die groessten
Traumtaenzer kamen hier zu Achtung und Einfluss,
ohne dass ihre Leistungen wirklich von Wert gewesen
waeren. Es genuegte vollkommen, auf den richtigen
Festen zu tanzen und die einzige Form von Aufnahmspruefung ist, auf den richtigen Festen zu tanzen, die
richtigen Leute und damit den richtigen Weg zu
kennen.
Dieser Stadt war mit Qualitaet nicht beizukommen.
Der Schmaeh, die denunziatorische Geruechteboerse,
der Tratsch in den Lokalen der inneren Stadt, verzerrten alle Ereignisse unter dem Deckmantel lauteren
Moralisierens bis zur Unkenntlichkeit. Die klarsten
Einsichten wurden durch mangelndes Verstehen
verstuemmelt.
Mit Kunst konnte man diese Stadt ueberhaupt am
leichtesten taeuschen. Dies lag allein schon daran,
dass Kunst bloss als gesellschaftlicher Aufputz und
nicht als ernstzunehmende Taetigkeit anerkannt
wurde.
Die Energie, die Humbolt auf seinen Reisen speicherte,
verlor sich nach drei, vier Tagen Anwesenheit in
dieser Stadt.
In der oesterreichischen Literatur kursiert eine
Theorie, die besagt, dass es nur im Zustande des
Leidens moeglich waere, zu schreiben.
Eine Theorie, die in anderer Form, bei Young anklingt.
Er behauptet, dass Erkenntnis dem Sterben gleichkaeme.
Das todesselige, prunkvolle Barock bildet den kulturhistorischen Rahmen dieses eigenartigen Wiens, das
dieser seltsam verqueren Weltbetrachtung, die offensichtlich nur den Trauernden die Welt richtig sehen
laesst, so verfuehrerisch entgegenkommt.
Humbolt nahm einen Apfel vom Bord, biss hinein
und erkannte. Der Alte hatte einmal in einem Gespraech erwaehnt, dass Kunst eben deswegen Kunst
sei, weil sie nicht Natur ist.
Die Natur ist das eine und der Begriff ein anderes.
Das Trugbild von der Gleichstellung von Wissenschaft, Kunst und politischer Theorie, die Grundlage
des Denkens der sechziger und siebziger Jahre, loeste
sich in nichts auf. Naturwissenschaftliches Denken
schliesst Kunst aus. Die Objekte verstellen den Weg.
Die Verben verschwinden im Untergrund. Jenseits
und dahinter kann Humbolt nichts ausmachen.
Wien und Salzburg, Hochburgen des Spiels auf Leben
und Tod, praegen mit ihrem barocken Denken die Erziehung des Landes.
Das Spiel der Moral von Leben und Tod hat sich in den
buntesten und sattesten Farben ueber der Landschaft
in den Koepfen der Bewohner niedergelassen.
Die Kirchen Lateinamerikas gleichen denen in den
habsburgischen Erblanden. Die Konquistadoren der
Freiheit sind ueber den ganzen Erdball verstreut.
Die traurigen Gestalten der Indios durchziehen das
peruanische Hochland.
Die Plaetze vor den Kirchen sind veroedet. Den
Skulpturen wurden Haende, Insignien und die Koepfe
abgeschlagen.
Der Schamane schuettet auf dem heiligen Berg dreimal
gebrannten Schnaps in alle Windrichtungen und verbrennt den Foetus des Lammes auf einem Haufen getrockneten Kuhdungs.
Die Geroellhalden der alpinen Gebirgsmassive, die
knapp unter dem Gipfel hervorbrechenden Steinbloecke,
erzeugen vollkommen andere Gedanken, wecken Empfindungen, die ausserhalb der menschlichen Kultur
stehen. Jetzt, auf dem Bahnsteig, auf dem Bahnhof von
Gstatterboden, hinter mir das Totenkoepfl, vor mir der
Zug, der mich aus dieser Gegend wegbringen wird, auf
dieser verlassenen Bahnhofszeile, ueberfaellt mich eine
Leere, die ich nicht mehr auszuloten weiss.
Johnsbach; hier liegen die begraben, die sich am Berg
versuchten und zu Tode stuerzten, deren Familien nicht
die Mittel aufbringen konnten oder auch nicht wollten,
um den Leichnam in den Heimatort zu ueberfuehren.
Hier liegen ihre Reste, ohne Beziehung zum Ort, abgesehen von jenem einen Tag im Berg, der ihr letzter sein
sollte. Menschen aus der Fremde.
Vor vierhundert Jahren wurde dieser Ort dem Erdboden gleichgemacht. Kaiserliche Kohorten brannten
die Haeuser nieder, schlachteten das Vieh, raederten
und henkten die Maenner, erstachen die Frauen und
erdrosselten die Kinder. Die Johnsbacher Bauern, Bergleute und Holzknechte, waren Wiedertaeufer gewesen.
Die Enns teilt das Gebirge, glaettet die Steine und
fliesst in Richtung Oberoesterreich.
Die Waggons sind mit Holzstaemmen beladen. Auf dem
Platz davor sind grosse Mengen Holz zum weiteren
Transport gelagert. Mich friert, die Spitzen der Berge
sind in Nebel gehuellt. Regen nieselt ins Gesaeuse. Ich
wage nicht, mich in den Warteraum zu setzen, in
diesen Warteraum, der nach mit Oel eingelassenem
Holz riecht, nach schwellendem Koks, nach Abfallresten. Ich wuerde hier nichts anderes tun koennen,
als hin und wieder nach dem Bahnbeamten hinter dem
kleinen Schalterfenster sehen und auf die Fahrplantafel
starren.
Hier heraussen gibt es wenigsten Regen und etwas
Wind. Die Haende habe ich in meinen Manteltaschen
vergraben. Warteraeume beunruhigen mich.
Der Novembernebel kriecht den Berghang herab. Nebelfetzen verfangen sich in den Spitzen der Nadelbaeume.
Vor mir leuchten die Signallampen des Bahnhofes, sie
leuchten rot. Die Leere ist nichts anderes als Alleinsein.
Ich werde Tage brauchen, um den Menschen wieder
nahe zu kommen.
Der Zug faehrt ein, Humbolt oeffnet die Tuer, klettert
die Metalltreppe hoch und setzt sich in den leeren
Waggon.
Der Adler verlaesst den dunklen Bereich der steinernen Wand und haelt nach Beute Ausschau. Ueber
dem Sinai tobt ein Sturm.
Humbolt liegt auf einer ledernen Bahre, der Schamane
streut ueber seiner Brust Kokablaetter aus. Er umtanzt
den Koerper Humbolts in knappen, verhaltenen Bewegungen. Danach spuckt er ein Gemenge aus Regenwuermern und Lammblut vor den Augen Humbolts aus.
Die Landschaft dehnt sich. Den Laemmern wird roter
Wein eingefloesst, das Fell wird mit Confetti bestreut.
Die Regenschauer waschen das Holz der Bruecken ueber
den Schluchten rein. Die Gewaesser branden weiss und
schaeumend zu Tal. Die Baeume oeffnen ihre Poren und
saugen das Wasser in sich auf. Donnerschlaege grollen
ueber die Landschaft hinweg. Auf das Dach des Waggons prasseln Hagelschlossen.
Alle Erinnerung kommt sentimentalem Rueckfall gleich.
Die Familie laesst uns nie mehr los. Die Einbildungen
verhuellen die Wirklichkeit. Gegen den Strom schwimmen zehrt an den Kraeften. Mit dem Strom treiben und
am Ufer stranden.
Aus dem Ritual ausbrechen und von den Priestern als
warnendens Beispiel benutzt werden. Sie erwarten
das Scheitern ohne innere Ungeduld. Sie haben nichts
anderes zu tun , als hinzuweisen. Denn nichts laesst sich
leichter zeigen als ein Bild des Menschen.
Als Humbolt am Ende der Sackgasse angelangt ist, sieht
er an den Waenden hoch und bemerkt, dass er in einem
anderen Land angekommen ist. Einem Land, das viel
aelter ist, als er angenommen hatte. In diesem Land
wurden Kinder nur geboren, um die leergewordenen
Plaetze aufzufuellen, um dem ueberkommenen Gebaeude den lebendigen Zusammenhalt zu geben. Veraenderung wurde hier als Erziehung begriffen, als Anpassung an das Gegebene. An eine Veraenderung der
Einrichtungen wagte hierzulande keiner zu denken.
Die, die es trotzdem taten, mussten mit den schlimmsten
Folgen rechnen. Jeden Angreifer erwartete Demuetigung.
Die Staedte, die Organisationsform der modernen
Staedte uebt einen ungeheuren Druck auf die in ihnen
lebenden Menschen aus. Die Kraft dieses Druckes kam
Humbolt auf seinen Reisen, in entfernte, unberuehrte
Landstriche immer wieder zu Bewusstsein. Mit der
Entfernung von den Staedten nahmen die Verpflichtungen, Einschraenkungen und Regulative, die
der zwischenmenschliche Verkehr in eben diesen
grossen Ballungen fordert, immer mehr ab und
wurden durch jenes Gefuehl, das eben nur Befreiung
ausloesen kann, ueberwunden, vergessen gemacht
und als eben nur den Staedten zugeordneter Zustand
erkannt.
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