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part.4

Er hatte Karger wieder getroffen. Er war vor der Auslage eines Geschaeftes gestanden und hatte die ausgestellten Waren betrachtet. Karger war auf ihn zugegangen, hatte ihm ins Gesicht gesehen und gebeten, ihn doch auf ein Bier einzuladen. Humbolt wusste, dass es Karger nicht um das Bier ging. Karger wollte mit ihm reden. Karger hielten sie alle fuer einen nutzlosen und haltlosen Trunkenbold.
Sie setzten sich in eines der Gasthaeuser der inneren Stadt. Das Gasthaus war gut besucht. Die Kellner eilten mit Kruegeln Bier, Glaesern Wein, Blutwuersten, Schweinsbraten und Gulasch durch den Raum, von Tisch zu Tisch. Sie nahmen Bestellungen auf, von den Gaesten in knappen Saetzen hingesagt, servierten, brachten neue Getraenke, holten ihre grossen Brieftaschen hervor, um zu kassieren. Humbolt bestellte zwei Bier.
Karger schwieg. Humbolt wusste, dass er erst nach dem ersten Bier zum Reden anfangen wuerde. Er brauchte den Alkohol, um sein Hirn in Fahrt und seine Zunge zum Reden zu bringen. Vor Jahren noch war er einer im Vorfeld gewesen. Er war zwar nie Wortfuehrer, hatte aber rasch den Zug der Zeit verstanden und versuchte auf seine Art, den moeglichen Weg zu finden. Karger hatte mit allem gerechnet, nur mit dem Unverstand seiner Weggenossen hatte er nicht gerechnet. In jener Zeit wurde man sich schnell einig. Einigkeit bedeutete damals Widerstand gegen das System. Die Beweggruende und die Motivationen des einzelnen konnten leicht ueber den Kamm geschoren werden. Es genuegte der Ruf nach Veraenderung des Bestehenden, um eine ganze Generation in den Bann zu ziehen. Die Losungen waren einfach, die politischen Verhaeltnisse schnell erklaert, der Bruch mit der Elterngeneration von vornherein gegeben. Wer A sagt, muss nach B gehen, um Z zu erreichen. Nachdem der ersten Deutung der Widersprueche zugestimmt war, musste auf den weiteren spielen gelernt werden. Die Huhn und Ei, Ei und Huhnakrobaten erlebten einen weiteren kurzen Fruehling und machten sich das allgemeine Unbehagen zunutze. Es ging um ein hoeheres Ziel. Haschisch war in, Lieben war in, Trinken war in, und Revolution wurde zum gefluegelten Wort. Nur verstand unter diesem Wort jeder seine ganz persoenliche Version. Das Proletariat erlebte einen ungeahnten, historischen Aufschwung. Ein Umsturz jagte den anderen; in den Koepfen. Die Sprache des Deals vermischte sich nahtlos mit politischer Agitation. Die Drogen machten es einem leicht, ueber die tristen Verhaeltnisse und die kaum aussichtsreichere Zukunft hinwegzusehen. Die politische Analyse hatte das bestehende System laengst auf den Misthaufen der Geschichte geworfen. Man glaubte sich in dem Zeitalter, in dem jeder nach seinen Beduerfnissen befriedigt wurde. Das Dunkel der Geschichte lag hinter ihnen, die Alten hatten unrecht gehabt, und die Tage ohne Zwang schienen angebrochen zu sein.
Ueber Kargers Redaktionsschreibtisch in einer linksorientierten Tageszeitung war einmal ein Bild gehangen. Das Bild zeigte ein nacktes Maedchen mit geoeffneten Schenkeln, den Oberkoerper abgestuetzt und den Kopf in den Nacken gebeugt. Auf das Geschlecht des Maedchens zeigte ein Pfeil, und darueber stand Freud geschrieben, und auf den Kopf der Frau zeigte ein Pfeil und darueber stand Marx geschrieben.
Jetzt, nachdem er den einen eingehend gelesen und den anderen in die Praxis umsetzen wollte, wuesste er endlich, wie widerspruechlich dieses Bild sei, meinte Karger und verzerrte hastig eine Semmel.
Manchmal komme es ihm vor, dass seine Liebesbeziehungen an der Revolution und die Revolution an der Liebe gescheitert seien. Uebrig geblieben waere nichts als blosse Aggression und darauf folgende Resignation. Darueber koenne ihm auch der Alkohol nicht hinweghelfen.
Er haette sein Leben in fremden Koepfen verschwendet, seine Regungen von vornherein durch Ideen anderer zensuriert. Er habe sich selbst abgewuergt. Er muesse sich eingestehen, dass seine sozialen Faehigkeiten verkuemmert, von Anfang an verkuemmert gewesen seien. Und damit lasse sich weder eine Revolution, noch ein Staat machen. Da haetten auch systemveraendernde Ansprueche und Modelle nichts genuetzt. In den meisten Faellen waeren es blosse Einfaelle gewesen, um das Versagen im Zwischenmenschlichen zu kaschieren, und daraus waeren Moden geworden. Aus der Familie in die Gruppe, der Traum von der kollektiven Lust. Aus der Gruppe in die Zweierbeziehung, daraus wieder zur Familie und nach deren Scheitern zum Single. Und uebrig bliebe nichts anderes, als Peeps, versoffene Wichser und muerrische Einzelgaenger. Verbloedete do it yourself Entertainer, die sich ihr Versagen von lautstarken Diskokanonen aus dem Hirn treiben liessen und sich in den Trend angebenden Zeitschriften als Selbstdarsteller feiern liessen. Der gesellschaftliche Anspruch habe sich auf das Festhalten an den Theken reduziert. Sie traefen sich nur mehr, um einander zu zeigen, dass sie auch noch auf der Welt waeren. Politik und Gesellschaft waeren zu einem schlechten Biertischwitz verkommen. Und die Ansicht von der Familie als kleinbuergerliches Relikt sei ja nichts anderes als Selbsttaeuschung, die vor der Tatsache des Alleinseins schuetze. Ihr ganzer Glaube an Marx und an das Kollektiv haette doch nur ein paar Theatertruppen und Filmschauspielern zu einem eintraeglichen Geschaeft verholfen und jener obskuren Thekenkraft aus dem Cafe Bojodar zu einem gutgehenden Speiserestaurant, aus dem sie jetzt die Exlinken nach Belieben hinausfeuern koenne. Vor einem halben Jahr waere er wieder bei ihr gewesen und sie haetten weit ueber die Sperrstunde hinaus gesoffen. In einem ploetzlichen Anfall von Spendiererei stellte sie ein paar Flaschen Rose auf den Tisch und nach der vierten Flasche sprang sie selbst auf den Tisch, schuettelte die Faust und forderte bruellend die Weltmacht der Frau.

Gluecklich die, die ueberleben, sich frueh genug anpassen und besitzen. Denn nun gilt es nur mehr, den Besitz revolutionaer zu verteidigen. Er wolle gar nicht dran denken, wieviele Naechte er in dieser und aehnlicher Weise sinnlos verbracht habe. Die Beziehung zu seiner Frau, und die liebe er denn doch, haette darunter mehr als gelitten. Aber auch er leide an dieser Liebe. Er komme sich vor wie in einem Fahrzeug, das ziellos dahinfuehre und auf dessen Steuerung er keinen Einfluss mehr habe.
Die Befreiung sei zu einem Satyrspiel geworden. Freie Sexualitaet nichts anderes als das alte Nuttentum. Freiheit, Liebe, Offenheit, Gewaltlosigkeit, die Begriffe laegen jeder Wirklichkeit fern.
Als ob sie nur ein uebler Taschenspielertrick gewesen waeren, den Partner ueber die wahren Absichten hinwegzutaeuschen. Er selbst habe oft genug die Hoffnungen anderer missbraucht. Er koenne sich nur mehr als eine jaemmerliche Karikatur eines menschlichen Traums begreifen. Er haette es sich viel zu leicht gemacht und keinerlei Widerstandskraft bewiesen, nun muesse er wohl oder uebel die Folgen tragen.
Nichts gegen ihn, Humbolt, nein, gegen den allgemein geuebten geistigen Verkehr, den vorherrschenden Gedankenaustausch, den Bewusstseinshandel. Natuerlich ermoegliche eine vielfaeltige Wirklichkeit eine vielfaeltige Sprache.

Und natuerlich waere die Sprachverarmung aus einer Verarmung der Wirklichkeit hervorgegangen. Die Sprache waere der Wirklichkeit gegen- ueber verantwortlich und nicht umgekehrt. Je ereignisarmer die Wirklichkeit waere, desto aermer sei auch der sprachliche Ausdruck. Das sei doch ein eindeutiger Fall. Er beginne diese Sprach- und Sozialmaschinisten immer mehr zu verachten.
Diese Auswendiglerner, diese Aufsager, diese Wiederholer, diese Erfueller, diese Nachfahren ihrer indolenten Vorfahren, diese theatralischen Redner, diese Wortedreher, diese Gestenmacher. Im besten Falle braechten sie es zum Leitartikler einer renommierten Tageszeitung. Zum Vorkaeuer der Wiederkaeuer. Schluss mit den Leitartiklern! Er koenne das alles nicht mehr lesen und nicht mehr hoeren; die Mama hat gesagt, der Papa hat gesagt, der Lehrer hat gesagt, der Vorgesetzte hat gesagt, der Minister hat gesagt, der Kanzler. Ja warum haben sie denn das alle gesagt? Und sie lassen Christi, Lenin, Marx und die ganze abendlaendische Philosophie aus ihrem Munde ertoenen. Sie machen sich zu Sprachroehrern der gesamten Friedhoefe des menschlichen Denkens. Sie verlassen sich auf die Worte anderer, wie ein Angestellter auf seinen Gewerkschaftsfunktionaer. Da denken sie nach ueber Sprache und Verhalten, die Nachfahren des guten Benehmens und des guten Tons. Jeder von ihnen hat seine Verhaltensikonen im Kopf, von links bis rechts eifern sie im Wettbewerb um die bessere Vergegenstaendlichung der Welt. An Sinn fuer die Gegenwart fehlt es ihnen entschieden. Und selbst wenn sie nur eine Spur Sinn haetten, wuerden sie bloss ihre Nichtswuerdigkeit ahnen. Humbolt bestellt sich noch ein Bier, und denkt daran, dass die Baeume jedes Jahr bluehen, auf den Feldern jedes Jahr wieder das Korn waechst und die Frauen im Fruehjahr sinnlicher aussehen als im Winter.

Die Geschichte dieser Stadt ist staerker als ihre Gegenwart. Und daran zu ruehren kaeme einer Grabmalschaendung gleich.
Die Fuesse ruhen fest auf dem Boden der Kaffeehaeuser und die Welt wiederholt sich im Kopf.

Humbolt fuerchtet um Karger. Er hat Angst davor, dass Karger vollends zugrunde gehen koenne. Zu einem Sozialfall werden wuerde. Zu einem Fall fuer Fuersorger und Psychiater.
Karger saeuft den naechsten Schnaps in sich hinein. Humbolt ist sich im klaren darueber, dass Karger dies tut, um sein Hirn Schluck fuer Schluck zu paralysieren. Von den Normalbuergern war er laengst schon zu einem armseligen Alkoholiker erklaert worden. Seinen Gedankengaengen, jenen ozeanischen Reisen durch die unvorstellbarsten Stuerme menschlichen Einfalls, hatten sie so nie folgen koennen und so hielten sie sich lieber an den Sprachschatz der Aerztekammer.
Humbolt hatte schon vor einiger Zeit festgestellt, dass in dieser Stadt die Sprache der Analytiker und Verhaltensforscher Platz gegriffen hatte. Und die Soziologen leisten ihnen, obwohl als Gegner auftretend, Schuetzenhilfe.
Karger versuchte, sich von den gaengigen Wortkonstellationen loszuloesen. Er bewegte sich hin zu Bildern reiner Anschauung, hin zu Sprachformeln, die den Sinn im Gang hielten.
Die alltaegliche Sprache ist doch nur ein hohles Geruest, ein loechriges Sieb.
Und, fuhr Karger fort, umso enger, umso feiner wir dieses Netz aus Sprache ueber die Wirklichkeit werfen, umso schmerzvoller beginnt sich unsere Seele dagegen zur Wehr zu setzen. Diese verdammten Vorbilder muessen endlich von einem reissenden, alles mit sich reissenden Strom ueberflutet werden.

Die Entfernung zum Menschen nimmt zu. Die Architektur tritt klar hervor . Im Hintergrund pfeift die Kaffeemaschine und der Ober laesst eine Tasse fallen. Am Gipfel des Berges angelangt, zeigt sich dieser meist im tiefen Nebel.

Karger wird mit seiner Vergangenheit nicht fertig. Mitten im Gespraech stockt er, sieht auf den Tisch oder sieht die Wand an, verkriecht sich, nickt manchmal bejahend, hoert aber offensichtlich nicht mehr zu und laesst den ausreden, der gerade redet, bis er den Faden und das Interesse an weiteren Mitteilungen vollkommen verloren hat. Manchmal ersucht er , einen Satz wiederholt zu hoeren, der schon einige Minuten vorher gefallen war, nur um seine scheinbare Teilnahme zu bekunden.
Der kann reden was er will, er hoert so oder so nur mit einem halben Ohr hin, das alles hat mit ihm nichts zu tun, aber schon gar nichts zu tun. Warum koennen sie ihre Angelegenheiten nicht im eigenen Kopf behalten. Er selbst hat genuegend Schwierigkeiten, wieder Boden unter den Fuessen zu bekommen. Er belaestigt sie ja auch nicht mit seinen Schwierigkeiten. Selbst wenn er ihre Dummheiten kritisiert und dabei einen schaerferen Ton anschlaegt, kommen sie mit ihren Banalitaeten, wie intolerant, wie agressiv und weiss der Teufel noch was er waere. Den meisten geht so oder so der Zusammenhang waehrend des Redens verloren. Muss man sich wirklich jeden Schwachsinn anhoeren, um nur als freundlicher Mensch zu gelten zu wollen. Nur mit Humbolt koenne er noch reden, da spuere er noch etwas.
Karger sagt, dass er keinerlei Ordnung mehr vertragen koenne. Jeder geregelte, vorhersehbare Ablauf mache ihn unruhig. Jede Handlung, die er schon einmal erlebt habe und der er wiederum beiwohnen muesse, mache ihn unruhig. Er haette es satt, zwei Abschnitte zu hoeren und die restlichen zehn vorhersagen zu koennen. Das erwecke tiefes Unbehagen in ihm. Er selbst wolle keine Regeln mehr erfuellen, das sei ihm zu billig. Er gruesse deswegen auch nur mehr aeusserst selten. Er sehe sich dazu auch nicht veranlasst. Er sei auch nicht mehr faehig, sich anzupassen. Er erachte Anpassung fuer etwas Widerwaertiges, fuer ein Uebel und die Gruende, die zugunsten von Anpassung hervorgebracht wuerden, seien fuer ihn ohne Gewicht. Das sei zwar verwunderlich, da ja gerade er sich jahrelang fuer Recht und Ordnung eingesetzt habe. Aber es waere in ihm Widerwillen entstanden und von dann an habe er nach Gruenden zu suchen begonnen, nach Gruenden der Rechtfertigung. Er habe aber keinen zureichenden Grund gefunden, Regeln, die ihm urploetzlich grundlos erschienen, weiterhin zu befolgen. Er habe jahrelang versucht, sich an die Verhaeltnisse anzupassen, sie hinzunehmen, aber das sei ihm jetzt nicht mehr moeglich. Er koenne sich an die Verhaeltnisse eben nicht gewoehnen und damit basta. Ja, mit dem Gruessen, da waere es ihm aufgefallen. Er haette nicht mehr einsehen koennen, Menschen zu gruessen, mit denen er doch kein weiteres Wort wechseln konnte.. Das sei ihm gegen den Strich gegangen. Von Hoeflichkeit habe er nie viel gehalten. Obendrein waeren die Menschen ins Gesicht hinein freundlich, aber in Wahrheit waere ausser dem Schein der Freundlichkeit doch keine Gemeinsamkeit vorhanden, und das sei ihm zuwenig und das waere ueberhaupt die oberflaechlichste und uebelste Form der Anpassung. Er haette ein fuer allemal damit aufgeraeumt. Ueber die Konsequenzen sei er sich im klaren. Dass sein Verhalten zu Streitereien, Widrigkeiten und auch zu voelliger Vereinsamung fuehren koenne, sei ihm letzlich egal. Er sehe keinen Grund mehr, dieses Hoeflichkeitsspiel mitzuspielen. Ueberraschend fuegte er hinzu, dass er nicht die Absicht habe, Selbstmord zu begehen. Das sei ihm zutiefst zuwider. Er sei geboren , um zu leben, daran halte er auch weiterhin fest. Jedoch an diese Umwelt koenne er sich nie mehr gewoehnen. Er wuerde sich kuenftig mehr dem Zufall ueberlassen, aber da haette er die groessten Schwierigkeiten. Der Begriff des Zufalls, ein zufaelliges Ereignis, widerspraeche vollkommen seiner Erziehung. Wie oft waere er in seinem Leben schon daran vorbeigegangen, gegen seine Wuensche, gegen seinen Willen, nur um einem anerzogenen Gesetz zu folgen, und wie schmerzhaft waere es gewesen, wenn er daran zurueckdaechte, und sich ausmalte, wie es sich entwikkeln haette koennen, wenn er nur auf die verschiedenen Aufforderungen eingegangen, einem zufaelligen Ruf gefolgt waere. Auch diese Ueberlegungen haetten sein Weltbild ins Wanken gebracht. Ihm, der seine Wege exakt vorherbestimmen wollte, war es nicht moeglich gewesen, die Ereignisse zu bestimmen, die gefolgt waeren, wenn er einer derartig zufaelligen Stimmung oder Aufforderung nachgegeben haette. Und das erstemal waere ihm klar geworden, dass es in ihm unbestimmte Gefuehle, Empfindungen gab, die ausserhalb seines klaren Bildes von der Welt und von sich selbst standen. Ja, der Zufall, auf den wolle er jetzt setzen und von dem organisierten Geschwaetz habe er ein fuer allemal genug. Und man solle ihn doch, verdammt seien sie alle, in Ruhe lassen. Ruhe sei das noetigste, das er jetzt brauche. Er komme mit der Welt nicht mehr zu Rande, er habe zulange nach den Regeln, nach den Bestimmungen dieser Welt gelebt und zu spaet erkannt, dass diese Bestimmungen falsch seien, ja geradezu gegen ihn selbst liefen, und damit wuerde er nicht fertig. Er, nur er, habe sich diesen Weg gesucht, keinen anderen gefunden, und wenn Jemandem das nicht passe, muesse er auch nicht mit dem reden. Ueberhaupt gehe ihm jedes Gespraech ab einem gewissen Punkt auf die Nerven, und er muesse dann zu streiten beginnen, ob er wolle oder nicht. Es zwinge ihn direkt, einen Streit anzufangen, den anderen seine Meinung aufs entschiedenste zu sagen, und die Meinung fiele nie guenstig fuer den anderen aus. Es sei eben so und liesse sich nicht aendern. Er habe ja nicht um Ansprache gebeten, sondern man haette ihn ja angesprochen. Nur an ihn wuerden Forderungen gerichtet, und nie haette er welche an Andere gestellt.
Diese Forderungen, da koenne er direkt in Wut geraten. Man muesse ihm nur sagen >das musst du tun< und er ginge schon in hellstem Zorn auf. Das habe ihn schon manche Freundschaft gekostet. So, wie er manche aufgegeben habe, da er doch Dummheit nicht ausstehen koenne. Gegen diese Natur sei nichts zu machen. Er habe jahrelang dagegen angekaempft und sich immer wieder gesagt, man muesse doch aus den Fehlern lernen. Er koenne jedoch nicht mehr unterscheiden, ob es seine Fehler oder die der Anderen waeren. Und jetzt sei endlich Schluss damit.
Was aus ihm werden wuerde ? Das sei ihm voellig gleichgueltig. Er schere sich keinen Deut darum, und er gehe jetzt stur diesen Weg, den er sich vorgenommen, der ihm letztendlich aufgezwungen worden waere. Er habe sich in der Gesellschaft, in die er da hineingeboren worden war, verheddert und verstrickt, und er wuerde sich jetzt mit allen Mitteln davon loesen, wenn noetig, daraus ausbrechen.
Dieses Leben, so wie sich herausgestellt hat, dieses Leben, wie er es in Wirklichkeit vorgefunden habe, das habe er nicht, entschieden nicht gewollt. Er komme sich vor wie ein Fisch, der in einem Netz zapple, und er waere wuetend auf sich, wenn er nur daran daechte, dass er an diesem Netz selbst mitgewoben habe. Er muesse raus, raus mit allen Mitteln, ansonsten muesste er untergehen. Er lasse sich nicht mehr unterdruecken, bevormunden, gebieten, auch nicht mehr leiten, er habe zutiefst Abscheu davor.
Er haette das Netz ja nicht wirklich geschaffen. Er sei zwar eine Zeitlang dafuer gewesen, aber er sehe nicht mehr ein, warum er in einem solchen Netz leben solle. Er verlange das ja von anderen, zumindest jetzt auch nicht mehr.
Er meine ja nicht ein Netz, das tatsaechlich existiere, und er waere ja in einem solchen auch nicht wirklich verfangen. Er habe sich nur ein anschauliches Wort ausgesucht, und Netz habe eben fuer ihn diese Bedeutung, er verwende es nur in einem bestimmten Sinne und es waere bloss ein Kuerzel fuer weitlaeufige Zusammenhaenge gesellschaftlicher Natur. Mit den Worten sei das so eine Angelegenheit. Er fuehle sich auch in einem Netz von Worten verfangen. Er wisse zwar genau, dass die Worte fuer Vorgaenge, Objekte und Eigenheiten stuenden, quasi ein Bild der Zustaende darstellten, aber er haette mit Entsetzen bemerken muessen, dass seine Worte, sein Begriffsvermoegen nicht immer mit der Wirklichkeit, das heisst, seiner Wahrnehmung von Wirklichkeit, uebereinstimmten. Worte haetten immer schon fuer ihn eine ganz bestimmte Bedeutung gehabt. Er habe einmal in der Schule das Wort >Verhaltensmuster< gehoert und dieses Wort habe ihn seither nicht mehr losgelassen, besser gesagt, das Nachdenken darueber habe ihn nicht mehr losgelassen. Es sei seltsam. Fuer ihn sei das nicht nur ein Wort. Es sei daraus eine sehr konkrete Erfahrung entstanden. Die Bedeutung, der Sinn, die Vergegenstaendlichung, sei ihm zutiefst eingegangen. Nur frage er sich nun, ob ihn dieses Wort nicht auf die Wirklichkeit hingewiesen, ihn darauf gestossen habe. Ja, dass er erst dadurch die Wirklichkeit wahrgenommen habe. Und aus dem Wort >Verhaltensmuster< waere fuer ihn sinngemaess das Wort >Netz< erwachsen. Nein, er haette ein Wort durch ein anderes ersetzt. Er habe eine Zeit lang auch nach anderen Woertern gesucht. Er habe danach getrachtet, seine Eindruecke eindeutiger, umfassender in Worte zu kleiden, und dabei waere er auf das Netz der Worte gestossen, und nun kaeme es ihm manchmal vor, dass er ebensowenig aus seiner Haut, wie aus seiner Sprache heraus- koenne und das treibe ihn manchmal fast zum Wahnsinn. Denn noch immer nicht stimmten seine Eindruecke, seine Wahrnehmungen mit den Worten ueberein. Denn dieses Netz bestuende zwar, wie jedes Netz, aus Maschen, aber diese Maschen waeren nicht fix miteinander verbunden. Ja es gaebe ueberhaupt nichts Fixes an diesem Netz. Er haette sich das frueher immer fix vorgestellt, eine klare, unveraenderliche, geometrische Konstruktion, an der es nichts zu ruetteln gebe. Und es verstoere ihn besonders, dass er dieses Netz nicht einmal zerreissen koenne, da doch die Maschen nicht einmal direkt miteinander verbunden waeren, aber doch waere es ein ganzes Netz. Nur gingen die Maschen, auch Maschen seien kein treffender Begriff mehr, es falle ihm jedoch jetzt nichts anderes ein, wie gesagt, die Maschen in einem verwirrenden Wechselspiel ineinander ueber, und das Netz wuerde sich immer wieder veraendern und nie die voellig gleiche Figuration aufweisen. Obwohl es den Anschein habe, dass sich manche Vorgaenge wiederholen und trotz der Ungereimtheiten ergebe sich fuer ihn immer wieder der Eindruck eines Netzes. Er muesse da ganz klar zwischen Eindruck und gewaehltem Begriff unterscheiden, der in diesem Fall im eigentlichen Sinne nicht zu begreifen ist. Jedenfalls sei es mit seiner bisherigen Auffassung, seinem bisherigen Verstaendnis von Welt vorbei. Es gaebe keine starre Ordnung. Dies sei meistens Einbildung durch Bildung. Nur wisse er nicht, was er denn mit seiner neuen Erfahrung anfangen koenne. Er wisse es noch nicht. Sich in dieser Unsicherheit bewegen, Bewegung im ungewiss Bewegten, das bereite ihm Schwierigkeiten und habe schon zu fuerchterlichen Ausbruechen von hilflosem Zorn und ungezuegelter Wut gefuehrt. Er habe sich schon verflucht, diesen Weg jemals gegangen zu sein. Aber jetzt koenne er nicht mehr zurueck.
Er habe schon die verschiedensten Figurationen und Formen von Netzen und Gittern kennengelernt. Er muesse wohl oder uebel auf diesem Gedankenweg bleiben. Er werde auf alle Faelle bis zum Ziel durchhalten, obwohl da kein Ziel zu erkennen sei. Eine zeitlang habe er nach Partnern gesucht, da waere ihm klar geworden, dass er damit selbst ein Netz geschaffen haette, und das wolle er auf keinen Fall. Seitdem er dies begriffen habe, komme er sich vor wie ein Fremder im eigenen Land. Nicht nur, dass er sich denen, die dem Netz noch verbunden waren, nicht verstaendlich machen konnte, nein, er koenne auch keines dagegen errichten, da ihm ja das Netz an sich zutiefst zuwider geworden sei. Die Welt waere ihm fremd geworden. Aber in der Fremde koenne er nicht leben, und so bliebe ihm nichts uebrig, als immerwaehrend zu fliehen, und selbst das wuerde immer schwieriger, da sich das Netz zunehmend verdichte, zusammenziehe. Manchmal muesse er deswegen vor sich selbst fliehen, nur um die Aussenwelt nicht mehr wahrzunehmen. Aber das stuerze ihn in neue Schwierigkeiten.
Er habe es auch aufgegeben, die Welt ueber ihren Zustand aufzuklaeren. Es haette keinen Sinn, ihr, der Welt, die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern. Dieses Netz muesse sich selbst vernichten. Er habe es satt, weiterhin Fisch zu sein. Nein, nun habe er die Absicht Fischer zu werden. Nein, das ginge auch nicht. Denn gerade als Fischer haette er eine besondere Beziehung zum Netz. Er wolle mit diesem verdammten Netz nichts mehr zu tun haben. Er muesse mit allen Gesetzen brechen, mit allen bisherigen und zukuenftigen. Mit all den Gesetzen, die nicht aus ihm selbst kaemen. Als er dies gesagt hatte, begann er zu zoegern und laut darueber nachzudenken, welche Gesetze aus ihm und welche nicht aus ihm kaemen. Daraufhin sagte er, diese Ueberlegung wuerde ihn in die gleiche Verzweiflung treiben, wie dies schon einmal in Zusammenhang mit Ueberlegungen zur Konspiration der Fall gewesen war. Er habe einmal beabsichtigt, die Wahrheit konspirativ zu verbreiten. Aber er habe die Unmoeglichkeit dieses Unterfangens eingesehen, da sich die Wahrheit, vor allem die befreiende Wahrheit, konspirativ nicht sagen liesse. Obendrein habe er diese Vorgangsweise auf mangelnden Mut zurueckgefuehrt. Die Pruefung durch die Wirklichkeit waere dabei einfach nicht zustande gekommen. Und es waere doch nur die Angst des Einzelnen, die Wahrheit nicht zu sagen. Die Angst vor dem Kluegeren, die Angst vor dem Gesetz, die Angst vor der Ideologie, ja schliesslich die Angst vor der Macht. Diese Angst habe ihn jahrelang verfolgt. Sie habe ihn dazu gebracht, Systeme zu erfinden. Systeme, um die Wahrheit zu sagen und zu verbreiten. Er waere daran fast irre geworden, wenn er nicht die Unsinnigkeit seines Unterfangens rechtzeitig erkannt haette. Seit damals habe er ein neues Verhaeltnis zur Wahrheit. Die Wahrheit sei fuer ihn schon laengst kein absoluter Begriff mehr. Ja, er koenne mit einer gewissen Sicherheit sagen, dass ihm das und jenes passieren koenne, wenn er dies und das machen wuerde. Aber dieses Sagen stehe doch in engem Zusammenhang mit der bestehenden Ordnung. Und niemand koenne mit wirklich gutem Recht behaupten, dass das vorliegende Netz das einzig moegliche Netz sei.

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