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part.5

Seltsam, das Paar, kaum lassen sie einander aus den Augen. Als haetten sie Angst, sich zu verlieren, sehen sie nur kurz seitwaerts, sagen schnell ihre Wuensche hin, um sich daraufhin gleich wieder im Blick zu haengen. Als ob die kleinste Stoerung ihre Liebe mindern koennte. Beilaeufiges reden sie dahin. Ihre Liebe verlangt nicht nach Bedeutung, nur nach Einverstaendnis. Und jede Stoerung dieses Einverstaendnisses versuchen sie zu verhindern.

Mit den fruehen Jahren war auch der Zorn vergangen. Der hoffnungslose Zorn, die ohnmaechtige Wut, die Faeuste, die sich bloss ballten und doch nie zuschlugen, die unendlichen Worttiraden zur Veraenderung der Welt, die Ausblicke in jene Staaten, in denen die Welt sich vermeintlich schon geaendert hatte. Die geaenderte Welt, mit ihren Massenumzuegen, mit ihren Massendemonstrationen, mit ihrem lautstarken, revolutionaeren Getoene. Vorbei die Identifikation mit ihren Fuehrern. Sie, die Vorbilder, deren Schicksal und Kaempfe, deren Siege und Niederlagen gleich einem gewaltigen Koenigsdrama, gleich einer archaischen Botschaft von Gewalt und Macht, von Aufstieg und Fall vor Augen gefuehrt wurden. Ihre unerbittliche Verdammung vor der Geschichte, die Zuruecknahme ihrer Rolle durch die Geschichtsschreibung, ihre erbaermliche Denunzierung vor den Massen, bis hin zum Totgeschwiegensein. Die Geschichte der Massen duldet keinen Fehler, sagen sie, die neuen Herrscher, und meinen die Geschichtsschreibung der Herrschenden. Doch warum die Identifikation mit diesen Menschen, deren geschichtlicher und menschlicher Niedergang gnadenlos gezeichnet ist. War es ihr Anliegen, das derartig grosse Faszination ausuebte, oder war es ihre Macht?
Warum war man blind gegenueber ihrem Fall?
Was bedeutet die Verehrung dieser Heroen, die noch fast allesamt auf dem Schutthaufen der Geschichte gelandet sind. Ist es selbstzerstoererischer Hass, der uns blind werden laesst oder ist der Wunsch nach einer anderen Welt so gross, dass er uns das Bestehende als verwerflich ansehen laesst?

Warum verschliessen sie sich bestehender Moeglichkeiten? Moeglich, dass es die Aussicht auf eine unannehmbare Zukunft ist. Warum gehen sie den Weg derer, die erbarmungslos zu Fall gebracht werden?
Sie greifen nach der Macht, um sich ihrer zu entledigen, und bereiten ihren eigenen Untergang vor. Und selbst verspotten sie alles, hoehnen und erniedrigen, beleidigen und verneinen, zerstoeren und trachten nach Vernichtung, bis Spott und Schande sie selber trifft.

Der Fall der Stadt Peking ist der Fall Chinas. Der vollkommene Bruch mit den alten Kulturen bedeutet auch einen Bruch mit einem Teil von sich selbst. Wie sehr wurde diese Zerstoerung beklatscht. Nur das vollkommene Nichtbegreifen, das vollkommene Ausserhalbstehen kann diesem unermesslichen Zerstoerungswillen zugrunde liegen.
Erst auf den Truemmern erkannten sie das Wesen der alten Welt.
Dies alles waere nicht so tragisch, wenn nicht der Niedergang der alten Kulturen in einer so unheimlichen zeitlichen Naehe zur realistischen Moeglichkeit einer globalen Vernichtung stuende.

Er liebt die Kargheit des Nordens. Diese Kargheit laesst keinen Ueberfluss aufkommen, und Ueberfluss ist etwas, das er sein ganzes Leben lang vermeiden moechte. Er weist aus dem Gastgarten hinueber zum Rathaus, auf das Bild Josephs des Zweiten, der hinter dem Pflug stehend dargestellt wird. Koenig, Bauer, Bettelmann. Von der Leibeigenschaft hat er sie befreit. Weisst du, Nona, was Leibeigenschaft bedeutet? Ein Leib, der ein anderer als der eigene ist, ist einem eigen. Humbolt ruft nach dem naechsten Bier. Die Wirtin kommt vorbei und fragt, ob alles in Ordnung ist. Diese Landschaft strahlt Magisches aus. Ueber ihr liegt ein Mysterium, das tief in die Vorzeit weist. Die baeuerliche Kultur selbst ist voller Magie. Haeuser, Werkzeuge haben magische Gesichter. In allem sind die Haende der Menschen spuerbar, knotig, gichtig und am Ende fahl. Die neue Technologie ist einfach deswegen nicht nach hier gedrungen, da es an Geld fehlt. So haben sie ihre Handfertigkeit, ihre Phantasie bewahrt.
Haltungen, die jenen fehlen, die zuviel an Technologie haben. Sie gehen ihrer Arbeit nach, ohne zu hasten und ohne sich in Unruhe bringen zu lassen. Die Felderwirtschaft verraet ein grosses, aesthetisches Empfinden der Bauern. Sie gleicht riesigen, in der Landschaft gemalten Bildern, deren ruhige Schwuenge ein friedliches Gefuehl ausloesen. Gewaesser, die Maeandern gleich durch die Doerfer schlingen, die geduckte Bauweise der Haeuser, die organisch in einander verflochtene Dorfstruktur, die Vorliebe der Bauern fuer bunte Farben.
Dahinter liegt die Urlandschaft aus Granitfelsen, riesigen Steinbloecken, Ueberresten von Moraenenbewegungen, Mischwaeldern und tief ins Gebiet eingeschnittene Flusstaeler.
Aber die Bilder koennen Humbolt nicht taeuschen. Eine Ueberlieferung geht zugrunde.
Die Landschaft ist feucht, kalt, manchmal gefroren. Hinter dem Dorf ballt sich eine schwarze Wolke. Russig schwer haengt sie ueber dem Muellplatz.
Auf den Feldern brennen Feuer. Aus allen Himmelsrichtungen leuchten die Feuerzeichen. Die Bauern verbrennen die Reste der Kartoffelernte. Stillhalten und an den Krieg denken. Im Krieg zeigt sich der Irrsinn der menschlichen Welt. Mit der umfassendsten Ordnung, mit der schaerfsten Logik wird die groesste Zerstoerung erzielt. Humbolt naehert sich der Grenze, dem Zweifel an der Geschichte von der weiteren friedlichen Entwicklung des Menschen. Jahrtausende, Jahrhundertausende haben vielleicht die letzte umfassende Vernichtung, die pure Entfesselung der elementarsten Energien vorbereitet. Alle Vorstellungen vom Tod sind gering gegenueber dieser, durch den Menschen entfesselten Gewalt. Der Mensch, ein Handlanger des Suizids der Natur. Vom Naturbild kann keine Rede mehr sein.
Die schwarze Wolke ueber dem Muellablagerungsplatz ist groesser geworden. Sie waechst weiter in den Himmel. Im weiten Umkreis leuchten die Feuer. Ich fahre ziellos durch die Landschaft, show me the way to the next whiskeybar.... I tell you, I tell you, me must die. Abrupt bricht die Musik ab. Das Band ist abgelaufen. Ich denke an eine Hinrichtung.
Er stellt den Wagen ab, tritt ins Haus und setzt sich an den Tisch. Nona ist nicht da.
Ueber den Nachthimmel faehrt eine Sternschnuppe, kreuzt die Milchstrasse und verloescht in einem blauorangen Lichtband. Seit Jahren hat er die Milchstrasse nicht mehr gesehen. Der alltaegliche Dunst, der ueber den Staedten liegt, truebt den Blick. Ueber die Landstrasse streifen hin und wieder die Lichtfinger eines Autos.
Ueber den Huegel im Nordosten zieht der Mond, eine mildgelbe Scheibe, hoch. Die Atmosphaere laesst ihn hier viel groesser erscheinen, so, als ob man ihn durch eine Verstaerkungslinse betrachten wuerde.
Humbolt denkt sich alle Sternbilder hinweg, um seine Augen einer unabsehbaren Konfiguration von leuchtenden Punkten, blinkenden Lichtern, unermesslichen Entfernungen, masslosen Geschwindigkeiten auszuliefern. Das Universum laesst sich von der Zeit nicht ruehren. Humbolts Vehikel ist die Erde und damit durchwandert er den Raum und schneidet die Zeiten.
Die Ereignisse ueberstuerzen sich, eine Sternschnuppe und noch eine und viele mehr kreuzen auf, der Himmel steht von Alpha bis Omega in Flammen. Die Erweiterung des Menschen findet statt durch die Erweiterung seines Bildes von der Welt. Giordano Brunos Scheiterhaufen umloht die winzige Erdkugel. Seine Vision ueber die Unendlichkeit ist sichtbar und wahrhaftig geworden.

Die Verschiebung des Massstabes macht die Sensation aus. Friedlich driftet Humbolt durch das Weltall.

Den ersten Toten hatte er im Alter von fuenf Jahren gesehen. Er kam zufaellig am Ort eines Verkehrsunfalls vorbei. Ein alter Lastwagen stand quer auf der Strasse. Rundherum eine Anzahl Neu- gieriger. Er sah unter dem Lastwagen durch und betrachtete lange die auf dem Schotter liegende Leiche eines Mannes, dessen Hirnschale geplatzt war. Das Hirn selbst war auf dem Schotter rundherum verspritzt.

Der letzte Pflanzenkundige des Bezirks war kuerzlich verstorben. Er lenkte sein Auto bei Rot in eine Kreuzung und stiess gegen ein querendes Fahrzeug. Der Heilkundige ueberlebte den Aufprall nur kurze Zeit. Er verschied bald darauf im Kreiskrankenhaus. Kurz vor seinem Tod hat er noch ein Buch veroeffentlicht, zur rechten Zeit, und sein Wissen weitergegeben. Aber wer konnte schon mit Sicherheit sagen, dass die Kraeuter und Pflanzen auch wirklich ihrer Wirkung gemaess angewendet werden wuerden. Obwohl der Verein versprach, das Werk des Kraeuterheilers weiterzufuehren, zweifelte Humbolt an der Einloesung dieses Versprechens. Diese Vereine entwickeln sich meistens zu hoechst unproduktiven Denkmaelern ihrer Gruender.
Ihre Mitglieder sehen darin bloss einen Anlass zu geselligen Abenden und alljaehrlichen Gedenkfeiern mit grossem tamtamtaratam. Aber gerade der Bereich der urspruenglichen Pflanzenheilkunde bedarf hoechster Aufmerksamkeit und groesster Sensibilitaet. Er hatte gehoert, dass der Heilkundige sein ganzes Leben der Pflanzenheilkunde gewidmet hatte und er gerade dadurch und nicht nur durch die blosse Verkuendigung geistiger Lehrformeln, eine grosse Zahl von Menschen an sich ziehen konnte. Obwohl er von den Aerzten der Umgebung mit Misstrauen und Neid beobachtet wurde, konnten diese gerade wegen seiner seelsorgerischen Taetigkeit nicht an ihn heran.

Die Aerztekammern gehen immer wieder rigoros gegen Naturheiler und Kurpfuscher vor, da sie um den Verlust geradezu geringster Einflusssphaeren fuerchten. Eine Haltung, die angesichts der Geldgier der Aerzteschaft durchaus verstaendlich ist.

Wirtschaftlich gesehen war der Norden ohne grosse Hoffnungen. Die Alten verzweifeln am Verlust ihrer Kinder, die in die Staedte abwandern. Abwandern muessen, da sie doch in ihrer Heimat keine Chance haetten. Mangelnde und unsichere Arbeitsplaetze, fehlende Sozialeinrichtungen, die politische Rueckstaendigkeit der Bevoelkerung, Niedrigloehne, unzureichende schulische Bildung, fehlende Mittel in der Krankenfuersorge und eine wahrhaftig rueckstaendige gesellschaftliche Hierarchie, die die kleinen weder zu Wort noch zu weiterer Entwicklung kommen laesst, kennzeichnen den Norden.

Die Reste des von der Revolution verschonten Feudaladels haben sich hier in ihre letzten Bastionen zurueckgezogen.

Betriebsansiedlungen in dieser Region erwiesen sich als Fehlschlag. Den sich hier einnistenden Unternehmern ging es in Wahrheit nur um die betraechtlichen Subventionen des Bundes.
Nach kurzer Zeit der Aktivitaet, die eben groesstenteils aus staatlicher Foerderung und nicht aus unternehmerischer Kraft bestand, schlossen die Betriebe, und die Einheimischen waren um die naechste Hoffnung aermer geworden.
Das kulturelle Leben ist hier immer noch nach buendischen Strukturen organisiert. Staat, Militaer und Kirche erscheinen nach aussenhin als getrennte Organe, wirken jedoch in ihrer Gesamtheit durch Suborganisationen auf die Bevoelkerung ein. Kameradschaftsbundtreffen gehoeren noch zu den respektablen, gesellschaftlichen Ereignissen. Maenner- und Frauengesangsvereine, staedtische Musikkapellen, bilden den Aufputz. Leben und Sterben werden hier offensichtlicher verwaltet und reguliert als anderswo.
In dieser Gegend hat sich uebrings auch ein in der Zwischenzeit wahnsinnig gewordener Maler niedergelassen. Er hatte den Glauben an die Malerei voellig verloren. Kurz vor seinem voelligen Rueckzug wollte er noch eine Kunstrichtung schaffen, die nur mehr mit elektronischen Mitteln zu verstehen sei, ohne zu bemerken, dass Elektronik eine ebenso menschliche Schoepfung wie es auch die Kunst ist. Auf Grund seines Vorhabens nahm er sogar eine sehr hohe Stellung im oesterreichischen Kunstleben ein. Er bemerkte viel zu spaet den grundlegenden Fehler seiner Konzeption. Als er dies bemerkte, blieb ihm nichts anderes uebrig, als in den Wahn zu fluechten. Seine Foerderer beklagen heute noch den Absturz des Meisters aus den Hoehen der Logik.

Nona und Humbolt hatten in dem alten Bauernhaus einige Spuren des Vorbesitzers gefunden. Dessen Vorfahren gehoerten der niederen Schichte der Abdecker an. Diese waren so etwas wie Unberuehrbare. Sie verrichteten die niedere Taetigkeit des Schinders, ohne dafuer soziale Anerkennung in irgendeiner Form zu erhalten. Kein Wunder, wenn sie sich mit den Brandweinern, Saeckelschneidern, Dieben, kleinen Wirtshausnutten und anderem Raub- und Mordgesindel verbanden. Der durch unzaehlige Legenden verherrlichte Raeuberhauptmann Grasl selbst hatte hier einmal Unterschlupf gefunden. Die Abdecker waren als Stand voellig verschwunden.

Sie fanden verrottetes Werkzeug, vergilbte Fotografien, eine grosse Menge leergetrunkener Flaschen, Wein- und Bierflaschen, rund um das Haus vergrabene Knochen, voellig nutzlos gewordene Gegenstaende. Spuren, aus denen man eine moegliche Geschichte rekonstruieren konnte; obwohl von Rekonstruktion von Geschichte eigentlich doch keine Rede sein kann, ist doch diese Geschichte immer nur in den Koepfen der Geschichtsbetrachter vorhanden.
Die vorgefundenen Fotos zeigten den Abdecker mit einem seiner Pferde, als Soldat im Krieg, als jungen Mann mit seiner ersten Frau, als aelteren Mann mit seiner Lebensgefaehrtin und als Greis im Krankenhaus.
Wie sich spaeter herausstellte, hatte sich die Lebensgefaehrtin eingedraengt und die Frau des Abdeckers vertrieben. Die erste Frau machte es den beiden leicht und verstarb.
Jahre vorher hatte der Abdecker seine Frau nur in Lumpen herumgehen lassen, geradezu, als ob er sie von anderen damit noch mehr fernhalten wollte. Eines Tages kam die Lebensgefaehrtin des Abdeckers ins Haus und klagte darueber, dass ihr die Verwandten ihres Gefaehrten keinerlei Hinterlassenschaft ausgefolgt haetten. Sie erbat sich von Humbolt einige der Fotografien und sie nahm eine, die den Abdecker als Soldaten zeigt, und die andere zeigte den Abdecker, wie er gerade seinem Pferd die Maehne zauste.
Tags darauf fand er in einem Kasten ein mit Reissnaegeln befestigtes Blatt des >Voelkischen Beobachters<, auf das der An- zeigenteil gedruckt war. Er las und entdeckte dabei eine der unverfrorensten Nazigeschichtsluegen. Es ging um die Einverleibung juedischen Eigentums in den Besitz des Deutschen Reiches. Im Jahre 1942, zu einem Zeitpunkt, zu dem kein oesterreichischer Jude mehr das Land verlassen konnte, bzw. in ein Konzentrationslager gesperrt war, wurden die Einverleibungsurteile im >Voelkischen Beobachter< ohne Angabe der Adresse, das heisst mit der Ausfertigung >Adresse unbekanntunbekannten Zieles verzogen< ausgefertigt und in der Zeitung veroeffentlicht. Den Zynismus einer Adressangabe, wie Dachau, Buchenwald, Mauthausen und so fort, konnten sich nicht einmal die Nazis leisten. Selbst der entmenschteste Staat gibt sich den Anschein der Rechtsstaatlichkeit. Um dem Gesetz die notwendige Wahrhaftigkeit zu verleihen, um die Glaeubigkeit der Bevoelkerung an das Gesetz aufrechtzuerhalten, scheuen sie auch vor den allergroessten Verfaelschungen nicht zurueck.

Noch heute findet man ihre Spuren ueberall. Selbst auf den Kirchfriedhoefen, unter Krukenkreuzen und deutschen Kreuzen, gefallen fuer das >Vaterland<. Die Vaeter zeugen in ihren Soehnen den Krieg fort.

Das verlasssene, in sich zusammengefallene Haus verfuehrt zum Nachsinnen ueber die Menschen, die es einmal bewohnt haben. Vielleicht gerade deswegen, weil ausser den Mauerresten nichts, rein gar nichts uebriggeblieben ist.
Sie waren lange gewandert und hatten lange gesucht, bis sie auf die Ueberreste der Siedlung Hard gestossen waren.
Sie lag im Wald versteckt, ueberschattet von hoch gewachsenen Fichten.
Ein Bewohner des naechstgelegenen Marktfleckens hatte mit freiwilligen Helfern die Grundmauern eines dieser kleinen baeuerlichen Gehoefte ausgegraben. Das Kind begann sich augenblicklich in den Mauer- resten einzurichten, bestimmte Kueche, Zimmer und Stallungen.
Die Vorstellungen, die sich an den Resten entzuenden, kommen unsereren Wuenschen gleich. Er selbst liebte die Traeume und seltsam verketteten Einfaelle, die ein verlassener Ort hervorzubringen imstande ist. Diese verschollenen Bezirke eroeffnen Gedankenwelten und Phantasien, die ausserhalb des Alltaeglichen liegen. Alle menschliche Verletzung, alle taegliche Gewalt, alle muehselige Verpflichtung verliert an Wirkung. Durch das Geaest der Nadelbaeume brach das Sonnenlicht und spielte mit dem Dunkel des Bodens.
Das Kind hatte in der Zwischenzeit ein Gericht aus Farnen, Beeren und Moos zusammengestellt und servierte es den beiden.
Die Erwachsenen zeigen selten die Faehigkeit, auf die phantasiereichen Spiele der Kinder einzugehen. So kam er sich etwas laecherlich vor, als er den Wuenschen des Kindes nachkam und Essen vorspielte. Doch das Kind war zufrieden. Frauen sind eher geneigt, diesen Aeusserungen nachzugeben, und Nona freute sich, weil er diesmal nicht abgewehrt hatte.
Aus den einfachsten und unscheinbarsten Mitteln errichten Kinder eine Welt, voll von Abenteuern. Besser: Sie haben errichtet. Die moderne Spielzeugindustrie laesst ihnen keinen Spielraum mehr. Auf einem Steinhaufen sitzen und von einer anderen Welt traeumen.
Er entsann sich seiner Kindheit. Er hatte selbst die Natur mit wuchernden Szenen angefuellt. Erkennen, dass derartige Orte des Uebergangs von menschlicher Gestalt in die Wildnis der Natur der Klaerung und der Loesung dienen.

Er hatte immer Schwierigkeiten gehabt, Nona seine Schwermuetigkeit und den damit verbundenen Unwillen verstaendlich zu machen. Beides glaubte sie gegen sich gerichtet und verstaerkte durch immer wieder darauf gerichtete Spitzen seine Isolation. Und konnte er einmal seinen Zustand erklaeren, ging sie leicht darueber hinweg. Sie stand dem Leben entscheidend naeher als er. Sie war in vielem seine Beziehung zum Leben.
Er draengte zum Aufbruch, nahm das Kind auf den Ruecken. Das Kind riss an seinen Haaren und lachte ins Licht.

Obwohl die Liebenden versuchen, in allem eins zu werden, reden sie in andere Richtungen. Nur laesst sie ihre Liebe dies nicht wahrnehmen und erste unloesbare Konflikte lassen die Abweichung zu Tage treten.
Frauen standen in seinem Weltbild in einem seltsam nahen Zusammenhang mit der Natur. Er erinnerte sich an einen heissen Sommertag, den sie an einem Waldteich zubrachten. Er war nahe des Ufers bis knapp unter den Schultern im Wasser gestanden und Nona vor ihm am Ufer in der flirrenden Sonne.
Er hatte eine Libelle mit strahlend gruenblauem Leib und durchsichtigen Fluegeln gefangen und wollte sie ihr nun zeigen. Sie lachte und sagte bloss: "Ich bin Flora, ich bin Fauna". Er hatte dann noch sekundenlang auf ihr Geschlecht gestarrt, auf ihren Badeslip, an dessen Raendern die Schamhaare hervorkraeuselten.
Die Welt der Frauen draengt nach Ueberfluss, nach Farben, nach Spiel und nach Lebenslust. Sie verspueren die Einschraenkungen und setzen alles daran, diese aufzuheben.

Das Anwesen liegt auf einer Anhoehe ueber dem Markt. Sie nennen es den Windhof. Dort hatte er seine Schulferien verbracht. Das war der Ort, an den er denken musste, wenn er sich nach Ausgeglichenheit und Selbstverstaendnis sehnte. Dieser Ort fiel ihm ein, wenn er ueber Stadtfluechtige las oder den Reden ueber das einfache Leben auf dem Lande zuhoerte. Er erinnerte sich gerne an den intensiven Geruch von selbstgebackenem Brot. An den Geruch des gelagerten Getreides, der mit dem Geruechen des Vorratsraumes eine besonders eigentuemliche Verbindung eingegangen war.
Dieser Geruch, der sich mit diesem alten Bauernhaus verband , loeste in ihm ein ganz bestimmtes Gefuehl von Geborgenheit aus. Erst viel spaeter begriff er, dass dieser Hof und die Menschen, die auf diesem lebten und das Land im kleinen Umkreis bewirtschafteten, sich eine bestimmte Unabhaengigkeit bewahrt hatten, die er in seinem Leben fuers erste nicht erreichen sollte: die Gelassenheit. Sie lebten da ihr Leben, zwar nicht abgekoppelt von dem der umliegenden Nachbarn, von der kleinen Marktgemeinde mit ihren sonn-taeglichen Kirchenfeiern und dem damit verbundenen Erfahrungs- und Meinungsaustausch auf dem Dorfplatz oder in einem der Wirtshaeuser. Sie fuehrten ein Leben, dass darueber hinaus seine eigenen inneren Gesetzmaessigkeiten besass, eben weitgehend unabhaengig von den anderen Zellen der Gemeinschaft.
Die Erkenntnis der Abhaengigkeit innerhalb der grossen und umfassenden Kollektive, in der wir jetzt leben muessen, laesst verstehen, warum der Wunsch nach dem einfachen Leben auf dem Lande, das sicher nicht am bequemsten ist, wieder aufkommt.
Gegen die Unueberschaubarkeit der staedtischen, industriellen, Lebensorganisation, die dem Einzelnen das Leben zwar vereinfacht, ihn kaum bemerkbar, doch fest an sich bindet, ihn aber auch hilflos gegenueber Katastrophen, gegen echte Krisen macht, die ueberschaubare, begreifbare und erfuehlbare, kleine Zelle zu setzen, ist wohl ein begreiflicher, fast natuerlicher Wunsch. Alles steht wider diesen Wunsch. Denn mit den grossen, umfassenden, fast globalen Lebensorganisationen haben sich starke, zentrale Maechte herausgebildet, deren Bestreben es ist, alle Moeglichkeit der unabhaengigen Zellbildung zu verhindern und den zentralen Machtanspruch bis in den letzten verborgenen Winkel auszudehnen. Es ist unmoeglich, diesem zentralen Gestirn zu entfliehn. Auf die Gefahr hin, sich selbst zu zerstoeren, beginnt die Erosion im Inneren zu wirken. Doch diese Veraenderung wird nicht zum vorherigen Zustand fuehren.
Und Familienbetriebe, so wuerde man sie heute bezeichnen, waren doch nichts anderes, als Leibeigenschaft und Reste einer feudalen Ordnung. Diese Bande moegen zwar in herrschenden Kreisen zart gewesen sein, im baeuerlichen Leben aber bedeuteten sie Knechtung, Ausbeutung und Verzicht. Mitsprache gab es keine, das Wort fuehrte der Bauer, und in diesem besonderen Fall mag die Besonnenheit und der friedliche Umgang der Bewohner, allesamt eine grosse Familie, durch die alte Frau bestimmt worden sein, die den Hof gar nicht mehr besass, ihn schon laengst an ihre juengste Tochter und deren Mann uebergeben hatte. Doch gegen ihre Lebensweisheit und die Lebenskraft, die sie sich bis hohe Alter bewahrt hatte, gab es keinen wirklichen Widerspruch und auch keinen durch Gesetz bestimmten Machtanspruch. Ihre besondere Rolle in der Familie war aus ihren Eigenheiten entstanden, und daran konnte auch der Verzicht auf Besitz nichts veraendern. So, als ob eine Veraenderung im Aeusseren, die Eintragungsveraenderung im Grundbuch, der Verzicht auf alle Vertretungsrechte nach aussen, im Inneren keinerlei Wirkung zeitigte.
Man hatte in allem das Gefuehl, dass diese Menschen, unabhaengig von ihrer sozialen Stellung, ob nun Magd oder Bauer, einander mit Wuerde begegneten. Hinzu kam noch jene seltsame Aura des Privaten und Vertrauten, die wir uns trotz aller Widrigkeiten ersehnen, wenn wir an Familie denken.
Sie erhielten jahrzehntelang die Schwachsinnige, dachten nie daran, sie in eine Anstalt zu stecken, gaben ihr nur Aufgaben, die sie auch erfuellen konnte und liessen sie ihre Sonderlichkeit ansonsten weder spueren noch merken.
Nichts hatte den Lebenswillen, die Lebenshaltung der alten Frau brechen koennen, nicht der Verlust ihres Mannes, der im grossen Krieg in des Kaisers Rock gefallen war, nicht die Zerstoerung des alten Hofes durch Brand und nicht der Tod ihrer Tochter, die ermordet wurde.

Die alte Frau hatte kaum jemals den Hof verlassen, und man konnte nicht mit Bestimmtheit sagen, wann sie das letztemal in der naheliegenden Landeshauptstadt gewesen war.
Die weite Welt kannte sie nur vom Hoerensagen, die Rundfunkmeldungen ignorierte sie. Die einzigen Schriften, die im Esswinkel auf dem Fensterbrett lagen, waren der Landwirtschaftskalender und die Bauernzeitung. Tageszeitungen kamen nicht ins Haus, die Welt blieb vor der Tuer. Von Bedeutung war nur der naechste Umkreis.
Sie vertraute auf das Muendliche, eine Erzaehlung musste immer von einem Menschen kommen, dem sie auch von Angesicht zu Angesicht gegenuebersitzen konnte. Dies, nur um zu zeigen, dass sie sehr wohl Interesse an der Welt hatte, denn diesen Erzaehlungen hoerte sie immer aufmerksam zu.
Natuerlich liess diese Abgeschlossenheit Vorstellungen und Vermutungen wachsen, und gerade einfache Leute erweisen sich als anfaellig fuer das Ausspinnen von Mutmassungen. Darin gleichen sie den Kindern. Aber einen Menschen, der die wesentlichen Bereiche und Notwendigkeiten des Lebens immer so klar entschieden hatte, wie sie, kann auch eine falsche Maer nicht irritieren. Es ist auch sinnlos, darueber nachzudenken, wie Menschen wie sie, sich in anderen existenziellen Situationen bewegt oder bewaehrt haetten. Sie, die an diesen festen Lebenskreis gebunden waren und ihr Leben daraus und nur daraus schoepften, waeren an allem, wo keine festen Bezugspunkte gegeben waren, sicher gescheitert. Nicht aus Unfaehigkeit, sondern weil ihr Lebenssinn nicht danach gerichtet war, und wahrscheinlich haetten sie alles ausserhalb dieses kleinen Lebenskreises als unnuetz angesehen.
Reste dieser Haltung hatten sich auch auf ihn uebertragen, und er lernte erst spaet den Unterschied zwischen diesem privaten Leben und einer groesseren Oeffentlichkeit erkennen.
Dies mag vielleicht der Grund gewesen sein, warum er sich in einem geradezu uebersteigertem Ausmass fuer gesellschaftliche Theorien interessierte. Um der Orientierung willen und um den Platz zu kennen, auf dem er sein Leben leben muesse. Bis er begriff, dass der Wandel, den er erlebte und ueber alle Theorie hinaus sah, nicht zu einer neuen festgefuegten Struktur fuehren wuerde, sondern dass der Wandel selbst die neue Qualitaet sei. Diese Erkenntnis war auch die einzige Moeglichkeit, den Widerspruechen, die seine Lebensumstaende bedingten, zu entkommen.
Die alte Frau haette auf seine Lesefreudigkeit, sein grosses Interesse an Theorien, wohl kaum Wert gelegt. Ihre Haltung hatte wahrscheinlich auch mit dem katholischen Umfeld , in dem sie lebte, zu tun. Die Kirche nahm im Leben der alten Frau eine uebergeordnete Rolle ein und es beschwerte sie sehr, als sie im zunehmenden Alter den Weg in die Messe im Dorf, diesen weiten Weg den steilen Berg hinab und umgekehrt wieder hinauf, aus Altersschwaeche nicht mehr antreten konnte.
Aber vielleicht war diese kirchliche Beziehung von bloss zusaetzlicher Bedeutung und bot den naeheren Lebensumstaenden den Mantel, so, wie das taeglich noch vollzogene Tischgebet die Ergebnisse der eigenen Arbeit, der Feldarbeit, der Stallarbeit und der Waldarbeit segnete. Eines ist sicher, es waren andere Gesetze , die in diese Familie noch hineinregierten. Waehrend unsere Wuensche und Vorstellungen nach Gleichberechtigung, Gleichgestelltheit, Verweigerung von Autoritaet, Verbindungen nicht wirklich zustandekommen lassen. Die Aura des Privaten, die die alte Familienstruktur erzeugte, wurde wohl zugunsten des Einzelnen verdraengt. Es kann aber auch sein, dass wir noch keinen Begriff von neuen, besseren, menschlichen Beziehungen gewonnen haben, auch nicht wirklich faehig sind, mit den neugewonnenen Freiheiten umzugehen. Doch muss man sich in Erinnerung rufen, dass diesen neugewonnenen Freiheiten zunehmend die Allmaechtigkeit des Staates, das umfassende, anonyme Kollektiv, gegenuebersteht. Eine Macht, die immer unertraeglicher wird, in Wahrheit noch unertraeglicher ist, als der Druck, der in den alten Familienverbaenden herrschte.
Die Schwachsinnige etwa, die eigentlich keine wirkliche Beschraenkung, ausser ihrer eigenen, hinnehmen musste, waere heutzutage laengst in einer geschlossenen Anstalt verwahrt und dem vollkommen unpersoenlichen Umgang der Aerzte, die sich im besten Falle an ihrer Krankengeschichte interessiert gezeigt haetten, ausgeliefert und von den Pflegern bloss als beruflich auferlegte Last empfunden.


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