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Humbolts Reise :
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part.6
Jedes Versagen in der Gesellschaft, in der wir leben
muessen, zieht zumindest die Androhung des Ausschlusses nach sich. Beziehungen zerbrechen nicht am
Partner, sondern am gesellschaftlichen Anspruch, der
gestellt wird. Ja, wahrscheinlich entstehen Beziehungen
gar nicht mehr. So ist auch keiner mehr imstande, er
selbst zu werden und auch nicht imstande dem
Anderen wirklich nahe zu kommen, etwas zu entwickeln,
zu entfalten. Alle Anstrengungen bemuehen sich um die
Erfuellung von gesellschaftlichen Rollenvorstellungen,
und diese sind nichts anderes, als die Forderungen der
neuen Maechtigen. Das Private ist nur mehr ein Schein-
bereich im ueber allem stehenden Anspruch der
Oeffentlichkeit, der Totalitaet.
Dem Ausschluss aus dem Oeffentlichen, der Verwahrung, unterliegt der Primat der Zerstoerung des
Individuellen.
Erst die Vernichtung der Eigenheiten, der ganz
persoenlichen Eigenheiten, erlaubt die Errichtung
des grossen Kollektivs.
Und das Kollektiv expandiert, dringt bis in den
entferntesten Winkel vor, und sucht alles zu
unterwerfen. Die Ausflucht ist verunmoeglicht.
Der Mensch hat in sich einen See von Blut, und
dieser See nimmt ab und zu, so, wie Ebbe und Flut
die Meere bewegen und zu und abnehmen mit
dem Atem von Mond, Erde und Sonne.
Durch das Fenster dringt das Licht des Mondes.
Humbolt schlaeft und in den Schlaf draengt sich
ein Traum. Die Ferne verdunkelt sich, Schatten
ziehen ein in den Horizont und lassen die Niederungen dunkel, die Hoehen im schaerfsten Licht
erscheinen. Der Wind treibt Staubwirbel vor sich
her, entwurzelte Kugeldisteln treiben nach Ague
morte: Pappeln beugen sich in der Richtung des
Windes. Zeitungsblaetter treiben ueber die Plaza.
Der Wind schlaegt die Seiten um und der Leser
erfaehrt eine vollkommen andere Geschichte.
Der Glaube, dass ein Kern geschichtlicher Tatsachen
objektiv und unabhaengig von den Geschichtsschreibern existiert, ist der laecherlichste, hingegen
der am schwersten auszurottende Irrtum.
Staubfahnen ziehen ueber die Plaza hin, die Bocciaspieler lassen die Kugeln im Sande ausrollen. Wir
leeren die letzte Flasche Pernod bis zur Neige und
das Glas faellt vom Tisch. Sand ueberzieht alles.
Die Haeuser, die Baeume, die Blueten, die Frauen,
die rasch mit gerafften Roecken Zuflucht in den
dunklen Haustoren suchen. Von diesem Teil der
Plaza aus kann Humbolt einen Teil der Bergstrasse
uebersehen, die in bizarren Windungen den Ort mit
dem Tal verbindet. Der letzte Bus sollte schon laengst
den Ort erreicht haben. Humbolts letzte Chance,
diesen Ort zu verlassen, ist eben jener Autobus. Denn
was bliebe ihm hier zu tun, ausser Pernod zu trinken
und den Bocciaspielern zuzusehen.
Der Loewe wird das Schaf reissen, der Elefant den
Loewen zu Tode trampeln, die Lilien werden im
Sande verdorren und die Lemminge werden sich
weiterhin ins Meer stuerzen. Und die Worte werden
zu toedlichen Waffen werden, die Geliebte wird dem
Geliebten keine Geliebte und der Freund dem Freund
kein Freund mehr sein. Und so traeumte er weiter,
bis er aufwachte. Er sah den Regen seine Spuren
ueber die Fensterscheibe ziehen, dahinter die dunkle,
morgendunkle Mauer, aus lehmig gebrannten Ziegeln,
unter dem schwer im Regen sich beugenden, triefnassem Geblaetter der Baeume, und er sah nach ihr,
in ihr immer noch schlafendes, von Trauer
gezeichnetes Gesicht.
Auch an diesem Tag wuerde ein Satz den anderen
denunzieren, und obwohl sie einander liebten,
wuerde kein Verstaendnis entstehen. Er strengte
sich an. Er nahm nur die einfachsten, naechsten
Dinge wahr. Tisch, Fenster, Tuere, Boden, Ecken.
Er wich jedem Gespraech aus, denn er hatte vor jedem
Gespraech Angst. Minutenlang starrte er auf das
Titelblatt der Morgenzeitung, die vor ihm auf dem
Tisch lag. Die Zeilen sagten ihm nichts, die Nachrichten
hatten all ihre Bedeutung verloren. Er war in den
Zustand der Sprachlosigkeit geraten, so, wie die Dinge
in einem Zustand der Bewegungslosigkeit verharrten,
und so sass er ruhig, Unruhe in sich und wartete auf
den Impuls, der ihn bewegen wuerde. Jeden Tag
dasselbe und das gleiche. Jeden Tag aehnlichen Problemen ausgesetzt sein, immer wieder mit denselben
Menschen sprechen muessen, sich durch immerwaehrende Wiederholung Anerkennung verdienen
muessen. Jeden Tag den Aufstieg aufs neue wagen,
so, wie ueber einen scharfen Eisgrat gehen, nicht links,
nicht rechts sehen. Nicht in der Mitte gehen, nach
oben gehen. Diesen riesigen granitenen Monolith
hinaufsteigen, immer denselben Stein mit sich tragen.
Schluss mit den Geschichten, mit den Epen und Sagen,
mit euren Erzaehlungen, an denen ihr euch hochrankt.
Sich die Aufloesung der Form wuenschen, da Wahrnehmung doch nur mehr statistisch ist und fernab
jeder Harmonie liegt. Ihr Torwaechter des Abendlandes, ihr Bauchredner der Geschichte. Von
Anfang an eingeuebt ins Gewissen, von Anfang an
ins Gewissen geredet bekommen, vom grossen Weltgewissen.
Seltsam, als Kinder spielten sie hin und wieder mit
dem Wort >Tod<. Wer log, sollte auf der Stelle tot umfallen. Nur deswegen gelogen zu haben, um auszu-
probieren, wie weit es denn mit der Sprache ginge.
Hoffnungslos, Harmonie zu erreichen, fast hoffnungslos. Sich immer mehr in ein Gespinst von Nichtverstehen verfangen, die Schuld immer dichter
webend. Schluss mit den Traeumen, Schluss mit
den Hoffnungen. So pflanzen sich die bedrohlichen
Bilder von Generation zu Generation fort, und jede
versucht aufs neue, ihnen zu entgehen, sie aus dem
Bewusstsein zu loeschen, aus ihrer Geschichte zu
verbannen.
Den Sinn nach allen Windrichtungen richten, die
Weisheit in alle Windrichtungen verstreut sehen.
Das Universum im Kopf festhalten ?
Die Einzelnen, die Subjekte, werden zum Objekt
der Dichtung. Eine traurige Erfahrung, dachte
Humbolt. Viele, die ihr Leben beschreiben, enden
in Depression. Diese Erkenntnis birgt die einfache
Entdeckung, dass der Dichter nicht Autor, sondern
zum Objekt gewordene Literatur ist. Hierin
stimmen die Dichter mit den Wissenschaftern
ueberein. In der Erkenntnis der Dinge zerstoeren
sie ihre Wirkungen, denkt Humbolt, und die Hoffnung , dass aus der Zerstoerung eine neue Wirklichkeit entsteht, ist bloss fadenscheinig.
Es gilt nur eins; der Flucht in unwegbare Landstriche zu entgehen. Vom Tod wegschreiben ist alles.
Vieles hatte sich in den letzten Jahren veraendert.
Die Beziehungen gestalteten sich um. Gesagtes
wurde ernst genommen. Dahinplaetschernde
Erzaehlungen, hingesagte Meinungen und verstreute
Behauptungen waren keinen Pfifferling mehr wert.
Wahrnehmung war in die Gespraeche eingedrungen.
Belanglose Saetze kamen nicht mehr an. Aussage und
Aussagender verschmolzen zu einer Einheit. Sie
begannen sich fuer ihre Saetze verantwortlich zu
fuehlen. Wirkliches gestaltete sich durch Sprache.
Auseinandersetzungen verschaerften sich. Vorstellungen und Vorspiegelungen zerbrachen. Die
Sprechenden ueberprueften die Richtigkeit ihrer
Saetze. Die unnuetze Trennung von Innerem und
Aeusserem wurde aufgehoben. Das aus dieser Trennung entstandene Geruest von Sprache verstellte
bloss den Blick auf die Welt, und stellte sich als
literarischer Trick heraus.
Und Kalypso gab ihm eine Axt von bestem Eisen,
unten und oben geschaerft und von sicherem
Schwung. Sie gab ihm auch ein geschliffenes Beil
und fuehrte ihn in einen Wald voller Pappelweiden,
Erlen und hochaufschiessenden Tannen. Ulysses
faellte zwanzig Baeume, schlichtete sie mit dem Beil
nach dem Mass der Richtschnur und fuegte sie aneinander und verband sie mit Naegeln und
Klammern zu einem Floss von der Groesse eines
breiten, geraeumigen Lastschiffes.
Nona und Humbolt sassen im Gasthaus des
kleinen Gebirgsdorfes. Sie waren vorher durch das
Tal hindurch bis an das Ende der fuer den taeglichen
Gebrauch bestimmten Fahrstrasse, bis zum Beginn
des schlechtausgebauten Forstweges gefahren. An
der Bruecke zum Forsthaus hin war ein Schild befestigt,
auf dem vor dem Betreten der Waelder gewarnt wurde,
dass das Wild tollwuetig und damit dem Menschen
gefaehrlich waere.
Wie so oft hatten sie ueber ihre Vorstellungen vom
Leben gesprochen, und waehrend sie ueber ihre
Lebenswuensche sprach, wurde Humbolt immer klarer,
dass er ueber Vorstellungen von Kunst, ueber die
Entwicklung der Sinne sprach, und die Uneinigkeit ihres
Gespraeches begann ihn zu schmerzen, obwohl er genau
wusste, wie sehr seine Absichten ihren Wuenschen und
Beduerfnissen entgegenstanden. Waehrend sie lenkte,
hatte er traurig aus dem Fenster gesehen, an der Landschaft vorbei und bemerkt, dass neue Haeuser hinzugekommen und die aeltesten endgueltig dem Verfall preisgegeben waren.
Die Talsohle zog sich eben hin, die Strasse war nicht
besonders kurvenreich.
Sie sprach vom Wunsch nach dem Leben allein, und er
musste sich sehr zurueckhalten um ihr nicht seine misstrauischen Gedanken mitzuteilen, die er ueber ihre
Motivationen hegte. Dazu zwangen ihn mehrere Gruende.
Einmal war er sich nicht sicher, ob seine Vermutungen
stimmten, andererseits wollte er keine Schwaeche zeigen
und schliesslich befuerchtete er, damit nur einen neuen
Streit heraufzubeschwoeren.
Vieles an ihrem gemeinsamen Leben war Gewohnheit
geworden. Gewohnheit war ein Zustand, den Humbolt
verabscheute, und Nona verspuerte Gewohnheit als
einen Verlust an Liebe.
Obwohl fuer Humbolt durch die Erlebnisse der letzten
Jahre, auch durch schaerfere Klarheit, eben gewonnen
aus Erfahrung, das Wort Liebe zu einem der unwirklichsten, der am meisten veraenderlichen Begriffe geworden war, akzeptierte er nach wie vor die Vorstellungen, die sich mit diesem Wort verbanden, als,
wenn auch unsichere, Grundlage der Verhaeltnisse.
Politik jeder Richtung hat sich bislang nicht auf
Liebe gegruendet.
Religion hat unter dem Vorwand, die Liebe zu verbreiten, diese ehern eingedaemmt.
Sie waren zuvor in der kleinen Dorfkirche gewesen.
Humbolt war an den Bildern einmal mehr aufgefallen,
dass die Frauen immer erhoeht, sozusagen in den
Wolken, die Maenner hingegen alt oder leidend dargestellt wurden. Diese Religion hatte alles Wirkliche
ins Jenseits vertrieben, das Diesseitige am Jenseitigen
scheitern lassen.
Sie gingen herum, besahen sich die alten Kunstwerke,
fotografierten. Hin und wieder sahen sie nach der Beschliesserin, die ihnen die alte, nur zu allen heiligen
Zeiten genutzte Kirche aufgeschlossen hatte. Sie
hatten ein unangenehmes Gefuehl, denn die Frau erwartete offensichtlich mehr, als die blosse
Betrachtung und Ablichtung der Bilder und
Skulpturen. Humbolt dachte daran, wie lange er in
einer Kirche nicht mehr gebetet hatte. Und er waere
sich laecherlich vorgekommen, wenn er sich vor
eines der hoelzernen, mit Gold und Farbe ueberzogenen Schnitzwerke, vor eines der Votivbilder hingekniet haette, um zu beten. vielleicht wars bloss mangelnder Mut.
Es fiel ihm die Erzählung über den einen Zenmeister ein, der eines
Tages, an dem eisige Witterung herrschte, den Tempel betrat, eine
der Buddhaskulpturen zerkleinerte, damit ein Feuer entfachte und
sich daran die halb erfrorenen Hände und Füße wärmte.
Der Hüter des Tempels war entsetzt und fragte fassungslos den
Zenmeister, der in der Asche herumzusuchen begonnen hatte, was er den
suche. Der Meister antwortete beiläufig, daß er nach Sariras suche. Der
Hüter des Tempels bemerkte darauf, dass in einem hoelzernen Buddha niemals
Sariras zu finden waeren. Sariras ist eine Art
mineralischer Niederschlag, der nach der Verbrennung
eines menschlichen Koerpers in der Asche gefunden
wird und dem Buddhismus nach Auskunft ueber die
Heiligkeit des gelebten Lebens gibt. Nachdem der
Waechter des Tempels festgestellt hatte, dass in
Skulpturen niemals solches zu finden waere, verbrannte der Meister des Zens saemtliche Figuren.
Die Beschliesserin, eine einfache Frau mit abgehaermten Gesichtszuegen, die ihr Leben lang in
stiller Andacht und Anbetung dieser Bildwerke verbracht hatte, wuerde diese Geschichte niemals verstehen.
Nona gefiel vor allem ein Bild, das Maria in weit
gebauschtem Gewande ueber den Wolken darstellte.
Humbolt sah darin die Verherrlichung der Frau,
fern der Realitaet.
Ihm war zuvor ein anderes Bildwerk aufgefallen.
Jemand hatte die Statue einer halbnackten, nach
vorne gebeugten Venus in eines der Fenster eines
ebenerdigen, sich in miserablem Bauzustande
befindlichen Bauernhauses, gestellt. Wie er spaeter
erfuhr, lebte in diesem Hause ein arbeitsloser Trinker
mit Frau und Kindern.
Humbolt liebte Nona noch immer, sah aber nur
mehr selten eine weitere Entwicklung. Es lag nicht
nur an ihnen, es lag auch an der Stroemung der Zeit,
in der sie lebten. Manchmal veraenderte sich ihre
Beziehung durch geringfuegig erscheinende Anstoesse
von aussen.
Nona erzaehlte ueber ihre Erfahrung in gruppentherapeutischen Sitzungen, ueber ihre Erfahrung
mit dem Psychologen und den gescheiterten
Therapieversuchen, die ihr Problem nicht trafen.
Sie hatte einige Zeit mit Humbolt und auch mit sich
selbst grosse Schwierigkeiten durchzustehen. Humbolt
musste sich eingestehen, dass er ihr das Leben nicht
gerade leicht gemacht hatte, und das Ignorieren der
vorhandenen Probleme war ihrem Selbstverstaendnis
nicht gerade foerderlich gewesen. Da sie kein besonders kontaktfreudiger Mensch war und in der
Wahl ihrer Freundschaften nicht sehr gluecklich,
versuchte sie ihr Heil eben bei den Verhaltenstherapeuten. Dieser Prozess entfremdete die beiden
mehr, als er ihnen nutzte. Humbolt, der Nonas Beweggruende zu kennen glaubte, konnte sie auch davon
nicht abbringen, haette sie doch jeden Versuch in
dieser Richtung als weitere Einschraenkung verstanden.
Ihm waren die Haende gebunden. Spiegelfechterei
wollte er nicht treiben. Er liebte sie, wollte Klarheit
und auf einen gruenen Zweig kommen. Allen Widerstand,
der seiner persoenlichen Entfaltung entgegengestellt
war, fasste er als persoenliche Beleidigung auf und sein
Blick fuer den wahren Sachverhalt war getruebt. Er sah
im Therapeuten einen Gegner, der seinen Versuch, Nona
wieder naeherzukommen, empfindlich stoerte. Aber,
wie schon gesagt, er kehrte sich nicht dagegen, da er
damit die Sache nur noch mehr verschlimmert haette.
Aber es entstand daraus ein Zustand, der ihn fast vollkommen hilflos machte, und er musste all seine bisherigen Vorstellungen von Zusammenleben und
Gemeinschaft revidieren.
Nona erzaehlte ueber die fehlgeschlagenen Therapieversuche.
Und sie waren deswegen fehlgeschlagen, zumindest
aus der Sicht des Therapeuten, weil sich Nona diesen
nie wirklich unterworfen hatte und an den scheinbar
emanzipatorischen Gruppenritualen nicht wirklich
innerlich teilgenommen hatte. In Wahrheit hatte Nona
an Erfahrung und damit an Selbstverstaendnis gewonnen und sie war auf die scheinheilige Autoritaet,
die die vollkommene Oeffnung des >Patienten< forderte,
um mit der Gehirnwaesche beliebig agieren zu koennen,
nicht vollkommen hineingefallen. In Wahrheit war der
Erfolg aller Psychotherapie die Erkenntnis ueber die
Funktion des Therapeuten. Ihn galt es zu durchschauen
und ihn letztendlich als falsche Autoritaet aufzuheben.
Humbolt fuehlte sich in seiner Rolle nicht gerade besser,
denn auch er musste einen Teil seines Selbstver-
staendnisses ueber Bord gehen lassen, um der neuen
Situation gerecht zu werden. Viele dieser Mietseelenwaescher erfuellten die Funktion des vorgetaeuschten
Verstaendnisses. Der menschliche Gedankenaustausch
wurde damit auf ein willfaehriges Dienstleistungsniveau
gebracht. So gesehen waren sowohl Therapeut, wie auch
Patient, insgeheim Gutheissende einer Gesellschaft, die
als entscheidende Grundlage nur den Geldverkehr
akzeptierte.
Humbolt sah darin einen weiteren Eingriff in jene
Freiheit, auf der er einmal hoffte, sein Leben und
sein Zusammenleben zu gruenden.
Allerdings hatte er ebenso dazu geneigt, Nonas Leben
zu verwalten. Indem er ihr seine Vorstellungen erklaerte, versuchte er doch nur, sie an ihn zu binden.
In den meisten Faellen ist der Begriff, den Menschen
vom moeglichen Weg haben, nur ein Begriff ueber
eine durch Ritualisierung anerzogene Verhaltensform.
Und der Initiierte neigt dazu, deren Regeln weiterzugeben und damit den Einflussbereich des Ritus zu erweitern.
Eine eigentuemliche Verknuepfung von Sexualitaet
und Agression erlebten sie am Vorabend auf dem
grossen Platz der kleinen Gebirgsstadt.
Sie waren Krampusschauen gegangen. Die laut
scheppernden Kuhglocken, die rasselnden Ketten,
die archaischen Masken mit den Stierhoernern, der
dionysische Tanz der in zottelige Felle gehuellten
Maenner, versetzten sie in eine archaische Zeit.
Die Rutenschlaege der jungen Maenner richteten sich
vor allem gegen junge Maedchen, die sich diese
symbolisch gemeinte Agression durchaus gefallen
liessen. Hinter dem Treiben der Nikolausnacht, dem
Kampf zwischen Gut und Boese, stand ein uraltes
Mannbarkeitsritual. Der uralte Stierkult einer sich
verhuellenden Maennergesellschaft, die ihre Regeln
im Dunkeln ausmacht und sich Frauen in einem
kriegerischen, wenn auch symbolischen Akt
unterwirft. Vor ihren Augen rollte ein archaisches
Zerrbild ab, ohne dass ihnen der tiefere Sinn gleich
zu Bewusstsein kam.
Nona gefiel das laute und grelle Treiben.
Die Macht der Einweihungs- und Trennungsriten
lebt in unseren Seelen fort. Jede neue Gesellschaftsform hat einen Teil der alten uebernommen. Modifiziert, verwandelt, manchmal unkenntlich, lebt sie
in der neuen fort. Die menschliche Kultur gleicht
einem Palimpsest.
Humbolt hatte die Macht, die diese Riten heute
noch auf Menschen ausueben, vor Jahren in Berlin
erfahren. In einer modernen Stadt, ausgeruestet
mit den neuesten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, einer pulsierenden Metropole mit aufgeschlossenen Bewohnern.
Eine der fuehrenden Berliner Buehnen brachte
eine Bearbeitung eines alten, griechischen Stueckes,
dessen Vorbereitungsspiel einen tiefen Blick in die
Riten und Mythen der Antike gewaehrte.
Im Verlaufe dieser Einuebung wurde das Publikum
nach Geschlecht getrennt. Humbolt hatte das Programmheft nicht durchgelesen, er wusste von
diesem Vorgang nichts und seine Begleiter hatten
ihn auch nicht darauf aufmerksam gemacht. Diese
Trennung fand nach der ersten Spielpause statt.
Humbolt betrat wieder den Theaterraum, wollte
auf seinen ursprueng-lichen Platz zurueck und
wunderte sich, dass ihn ungefaehr in der Mitte
des Raumes zuerst ein Schauspieler und dann
irgendein Aufpasser des Theaters zurueckhalten
wollte. Humbolt wurde zornig und waere fast
taetlich geworden, denn gerade in einem linksorientierten Theater erwartete er sich damals
keine Aufpasser. Wie sich spaeter in einem
uebertragenen Sinn herausstellte, war dies ein
grosser Irrtum. Die Theaterleute gaben ihren
Widerstand auf und Humbolt stand ploetzlich
in der Mitte des Raumes.
Don't pass the borderline.
Das weibliche Publikum, nun saeuberlich vereint,
schaute zum Teil erbost, empoert und erstaunt
auf ihn. Humbolt hielt die Konzentration dieser
vielen, auf ihn gerichteten Augenpaare nicht durch
und trat den Rueckzug an. Die Theatermacher
hatten einen uralten Trick vollzogen; die Geschlechtertrennung. Sich selbst erhoben sie damit
zu Priestern und fuer den weiteren Verlauf der
Vorstellung zu Herren der Geschichte.
Humbolt fuehlte sich ziemlich betreten und brauchte
dringend ein Bier und konnte bloss eine Berliner
Schorle ergattern.
Jahre spaeter las er in einem Buch eines der einflussreichsten amerikanischen Kultursoziologen ueber
bestimmte Steuerungstechniken im zwanzigsten
Jahrhundert und meinte zu erkennen, dass viele der
sich avantgardistisch nennenden Bewegungen bloss
eine Abart des alten Priester- und Kastenspiels waren.
Denn auf nichts gruendet sich Herrschaft besser,
denn auf Trennung, Vereinzelung, Tabuisierung.
Selbst die sich fortschrittlich gebaerdende Linke
fiel auf diesen jahrtausende alten Plunder herein.
Obwohl sie gerade an der katholischen Kirche, die
diese Technik mit grossem Erfolg ausgeuebt hatte,
ebendiese kritisierte.
In manchen katholischen Landgemeinden sind heute
noch Maenner und Frauen zur Linken und zur
Rechten des Altares gruppiert. Nichts anderes, als
ueberkommenes Symbol des archaischen Ritus, an
dessen Grenze nur der Schamane und seine ausgewaehlten und in die Geheimnisse eingeweihten
Diener stehen.
Die Priester des Kults, die Seelenfaenger von
vorgestern und die heimlichen Verfuehrer von heute
betreiben ihre Geschaefte nach wie vor.
Das neue Sektenwesen, das mit den aeltesten Mythen
der Menschen zeitgemaess geschminkt operiert,
haelt die Menschen im Taumel und dient nicht ihrem
Wohlergehen. Die Menschheit erlebt eine neue Hochbluete des Schamanismus, verborgen hinter Massenprintmedien, ausgekluegelten elektronischen Einrichtungen, verborgen in der gigantischen Film- und
Zeitungsindustrie, in den variablen Ikonen des 20.
Jahrhunderts.
Humbolt sah nach Nona und wusste nicht, wie er ihr
das alles sagen sollte. Ihre Therapeuten waren nichts
anderes als Schamanen und ihr Glaube an die neue
Wissenschaft nichts anderes als der Glaube an die
alten Priester.
Er erinnerte sich an eine makabre Leichenfeier.
Waehrend des Leichenschmauses anlaesslich des
Ablebens der Bauersfrau, die sich vor einen Zug
geworfen hatte, erhaengte sich ihr Mann im Dachboden des Hauses.
Frauen denken auf ihre Art voraus, dachte Humbolt.
All die Jahre mit Nona. Selbst wenn sie sich von ihm
trennte oder er von ihr, wuerde es doch bald wieder
Nona sein. Nona von vorne, Nona von unten, Nona von
oben, Nona von hinten, Nona ueberall. Nona bluehend,
Nona sinnlich, Nona geniessend, Nona abweisend, Nona
grausam, Nona besaenftigend, Nona stoerrisch, Nona
jubelnd, Nona leuchtend, Nona im Schmerz, Nona im
kleinen Finger, Nona zankend, Nona triumphierend,
Nona fordernd, Nona zwingend, Nona bettelnd, Nona
verfuehrerisch, Nona einschmeichelnd, Nona kratzend,
Nona streichelnd, Nona fluesternd, Nona schreiend,
Nona petzend, Nona veraechtlich, Nona ohne Scham,
Nona geziert, Nona auf, Nona ab, Nona hier, Nona dort.
Nona Theater, Nona Lust, Nona Schau, Nona wirklich,
Nona Schein, Nona sein.
Daran wird sich nichts mehr aendern. Jede wirkliche
Aenderung kaeme ihm wie eine absolute Offenbarung
vor. Alle Sinne an dieser unmoeglichen Offenbarung
orientieren.
An Einfallsreichtum war Nona nicht zu schlagen.
Sein eigener Verstand verzweifelte manchmal daran,
und er wusste dass es ausser des Gefuehls, keine
gemeinsam verbindende Logik gab. Nicht, dass sie
unlogisch gedacht haette. Liebe vertraegt eben keine
Ordnung. Sie hatten ihre Lust hemmungslos durchge-
setzt. Nichts konnte sie daran hindern. Umso schmerzlicher empfanden sie nun die Abwesenheit dieser Lust,
obwohl sie wussten, dass diese nicht verloren gegangen
war, sondern sich bloss in einen unergruendlichen
Winkel verkrochen hatte. Und aus dem wuerde
sie auch wieder hervorbrechen, und sie wuerden so
ueberrascht sein, wie sie von Anfang an davon
ueberrascht wurden. Ihre Leidenschaft war ihnen so
selbstverstaendlich vorgekommen, dass sie an Hindernisse einfach nicht dachten.
Es war von vornherein Leidenschaft gewesen, in der
Hass und Liebe, Freude, Leid, Begehren und Zerstoeren,
ineinander uebergingen. Dieses in den andern Hineindringen, sich im anderen ausloeschen, die Identitaet
aufgeben, sich hingeben, hergeben, ruecksichtslos
wegschenken, bis an den Punkt, an dem der kleinste
Verrat zur Katastrophe wird, zur existentiell bedrohenden Katastrophe.
Bis zum Einbruch der Kaelte, aus der keine Botschaft
mehr hinausdringt.
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