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part.6

Jedes Versagen in der Gesellschaft, in der wir leben muessen, zieht zumindest die Androhung des Ausschlusses nach sich. Beziehungen zerbrechen nicht am Partner, sondern am gesellschaftlichen Anspruch, der gestellt wird. Ja, wahrscheinlich entstehen Beziehungen gar nicht mehr. So ist auch keiner mehr imstande, er selbst zu werden und auch nicht imstande dem Anderen wirklich nahe zu kommen, etwas zu entwickeln, zu entfalten. Alle Anstrengungen bemuehen sich um die Erfuellung von gesellschaftlichen Rollenvorstellungen, und diese sind nichts anderes, als die Forderungen der neuen Maechtigen. Das Private ist nur mehr ein Schein- bereich im ueber allem stehenden Anspruch der Oeffentlichkeit, der Totalitaet.
Dem Ausschluss aus dem Oeffentlichen, der Verwahrung, unterliegt der Primat der Zerstoerung des Individuellen.
Erst die Vernichtung der Eigenheiten, der ganz persoenlichen Eigenheiten, erlaubt die Errichtung des grossen Kollektivs.
Und das Kollektiv expandiert, dringt bis in den entferntesten Winkel vor, und sucht alles zu unterwerfen. Die Ausflucht ist verunmoeglicht.

Der Mensch hat in sich einen See von Blut, und dieser See nimmt ab und zu, so, wie Ebbe und Flut die Meere bewegen und zu und abnehmen mit dem Atem von Mond, Erde und Sonne.
Durch das Fenster dringt das Licht des Mondes. Humbolt schlaeft und in den Schlaf draengt sich ein Traum. Die Ferne verdunkelt sich, Schatten ziehen ein in den Horizont und lassen die Niederungen dunkel, die Hoehen im schaerfsten Licht erscheinen. Der Wind treibt Staubwirbel vor sich her, entwurzelte Kugeldisteln treiben nach Ague morte: Pappeln beugen sich in der Richtung des Windes. Zeitungsblaetter treiben ueber die Plaza. Der Wind schlaegt die Seiten um und der Leser erfaehrt eine vollkommen andere Geschichte. Der Glaube, dass ein Kern geschichtlicher Tatsachen objektiv und unabhaengig von den Geschichtsschreibern existiert, ist der laecherlichste, hingegen der am schwersten auszurottende Irrtum.
Staubfahnen ziehen ueber die Plaza hin, die Bocciaspieler lassen die Kugeln im Sande ausrollen. Wir leeren die letzte Flasche Pernod bis zur Neige und das Glas faellt vom Tisch. Sand ueberzieht alles. Die Haeuser, die Baeume, die Blueten, die Frauen, die rasch mit gerafften Roecken Zuflucht in den dunklen Haustoren suchen. Von diesem Teil der Plaza aus kann Humbolt einen Teil der Bergstrasse uebersehen, die in bizarren Windungen den Ort mit dem Tal verbindet. Der letzte Bus sollte schon laengst den Ort erreicht haben. Humbolts letzte Chance, diesen Ort zu verlassen, ist eben jener Autobus. Denn was bliebe ihm hier zu tun, ausser Pernod zu trinken und den Bocciaspielern zuzusehen.
Der Loewe wird das Schaf reissen, der Elefant den Loewen zu Tode trampeln, die Lilien werden im Sande verdorren und die Lemminge werden sich weiterhin ins Meer stuerzen. Und die Worte werden zu toedlichen Waffen werden, die Geliebte wird dem Geliebten keine Geliebte und der Freund dem Freund kein Freund mehr sein. Und so traeumte er weiter, bis er aufwachte. Er sah den Regen seine Spuren ueber die Fensterscheibe ziehen, dahinter die dunkle, morgendunkle Mauer, aus lehmig gebrannten Ziegeln, unter dem schwer im Regen sich beugenden, triefnassem Geblaetter der Baeume, und er sah nach ihr, in ihr immer noch schlafendes, von Trauer gezeichnetes Gesicht.

Auch an diesem Tag wuerde ein Satz den anderen denunzieren, und obwohl sie einander liebten, wuerde kein Verstaendnis entstehen. Er strengte sich an. Er nahm nur die einfachsten, naechsten Dinge wahr. Tisch, Fenster, Tuere, Boden, Ecken. Er wich jedem Gespraech aus, denn er hatte vor jedem Gespraech Angst. Minutenlang starrte er auf das Titelblatt der Morgenzeitung, die vor ihm auf dem Tisch lag. Die Zeilen sagten ihm nichts, die Nachrichten hatten all ihre Bedeutung verloren. Er war in den Zustand der Sprachlosigkeit geraten, so, wie die Dinge in einem Zustand der Bewegungslosigkeit verharrten, und so sass er ruhig, Unruhe in sich und wartete auf den Impuls, der ihn bewegen wuerde. Jeden Tag dasselbe und das gleiche. Jeden Tag aehnlichen Problemen ausgesetzt sein, immer wieder mit denselben Menschen sprechen muessen, sich durch immerwaehrende Wiederholung Anerkennung verdienen muessen. Jeden Tag den Aufstieg aufs neue wagen, so, wie ueber einen scharfen Eisgrat gehen, nicht links, nicht rechts sehen. Nicht in der Mitte gehen, nach oben gehen. Diesen riesigen granitenen Monolith hinaufsteigen, immer denselben Stein mit sich tragen. Schluss mit den Geschichten, mit den Epen und Sagen, mit euren Erzaehlungen, an denen ihr euch hochrankt. Sich die Aufloesung der Form wuenschen, da Wahrnehmung doch nur mehr statistisch ist und fernab jeder Harmonie liegt. Ihr Torwaechter des Abendlandes, ihr Bauchredner der Geschichte. Von Anfang an eingeuebt ins Gewissen, von Anfang an ins Gewissen geredet bekommen, vom grossen Weltgewissen.
Seltsam, als Kinder spielten sie hin und wieder mit dem Wort >Tod<. Wer log, sollte auf der Stelle tot umfallen. Nur deswegen gelogen zu haben, um auszu- probieren, wie weit es denn mit der Sprache ginge. Hoffnungslos, Harmonie zu erreichen, fast hoffnungslos. Sich immer mehr in ein Gespinst von Nichtverstehen verfangen, die Schuld immer dichter webend. Schluss mit den Traeumen, Schluss mit den Hoffnungen. So pflanzen sich die bedrohlichen Bilder von Generation zu Generation fort, und jede versucht aufs neue, ihnen zu entgehen, sie aus dem Bewusstsein zu loeschen, aus ihrer Geschichte zu verbannen.
Den Sinn nach allen Windrichtungen richten, die Weisheit in alle Windrichtungen verstreut sehen. Das Universum im Kopf festhalten ?

Die Einzelnen, die Subjekte, werden zum Objekt der Dichtung. Eine traurige Erfahrung, dachte Humbolt. Viele, die ihr Leben beschreiben, enden in Depression. Diese Erkenntnis birgt die einfache Entdeckung, dass der Dichter nicht Autor, sondern zum Objekt gewordene Literatur ist. Hierin stimmen die Dichter mit den Wissenschaftern ueberein. In der Erkenntnis der Dinge zerstoeren sie ihre Wirkungen, denkt Humbolt, und die Hoffnung , dass aus der Zerstoerung eine neue Wirklichkeit entsteht, ist bloss fadenscheinig.
Es gilt nur eins; der Flucht in unwegbare Landstriche zu entgehen. Vom Tod wegschreiben ist alles.

Vieles hatte sich in den letzten Jahren veraendert. Die Beziehungen gestalteten sich um. Gesagtes wurde ernst genommen. Dahinplaetschernde Erzaehlungen, hingesagte Meinungen und verstreute Behauptungen waren keinen Pfifferling mehr wert. Wahrnehmung war in die Gespraeche eingedrungen. Belanglose Saetze kamen nicht mehr an. Aussage und Aussagender verschmolzen zu einer Einheit. Sie begannen sich fuer ihre Saetze verantwortlich zu fuehlen. Wirkliches gestaltete sich durch Sprache. Auseinandersetzungen verschaerften sich. Vorstellungen und Vorspiegelungen zerbrachen. Die Sprechenden ueberprueften die Richtigkeit ihrer Saetze. Die unnuetze Trennung von Innerem und Aeusserem wurde aufgehoben. Das aus dieser Trennung entstandene Geruest von Sprache verstellte bloss den Blick auf die Welt, und stellte sich als literarischer Trick heraus.
Und Kalypso gab ihm eine Axt von bestem Eisen, unten und oben geschaerft und von sicherem Schwung. Sie gab ihm auch ein geschliffenes Beil und fuehrte ihn in einen Wald voller Pappelweiden, Erlen und hochaufschiessenden Tannen. Ulysses faellte zwanzig Baeume, schlichtete sie mit dem Beil nach dem Mass der Richtschnur und fuegte sie aneinander und verband sie mit Naegeln und Klammern zu einem Floss von der Groesse eines breiten, geraeumigen Lastschiffes.
Nona und Humbolt sassen im Gasthaus des kleinen Gebirgsdorfes. Sie waren vorher durch das Tal hindurch bis an das Ende der fuer den taeglichen Gebrauch bestimmten Fahrstrasse, bis zum Beginn des schlechtausgebauten Forstweges gefahren. An der Bruecke zum Forsthaus hin war ein Schild befestigt, auf dem vor dem Betreten der Waelder gewarnt wurde, dass das Wild tollwuetig und damit dem Menschen gefaehrlich waere.

Wie so oft hatten sie ueber ihre Vorstellungen vom Leben gesprochen, und waehrend sie ueber ihre Lebenswuensche sprach, wurde Humbolt immer klarer, dass er ueber Vorstellungen von Kunst, ueber die Entwicklung der Sinne sprach, und die Uneinigkeit ihres Gespraeches begann ihn zu schmerzen, obwohl er genau wusste, wie sehr seine Absichten ihren Wuenschen und Beduerfnissen entgegenstanden. Waehrend sie lenkte, hatte er traurig aus dem Fenster gesehen, an der Landschaft vorbei und bemerkt, dass neue Haeuser hinzugekommen und die aeltesten endgueltig dem Verfall preisgegeben waren.
Die Talsohle zog sich eben hin, die Strasse war nicht besonders kurvenreich.
Sie sprach vom Wunsch nach dem Leben allein, und er musste sich sehr zurueckhalten um ihr nicht seine misstrauischen Gedanken mitzuteilen, die er ueber ihre Motivationen hegte. Dazu zwangen ihn mehrere Gruende. Einmal war er sich nicht sicher, ob seine Vermutungen stimmten, andererseits wollte er keine Schwaeche zeigen und schliesslich befuerchtete er, damit nur einen neuen Streit heraufzubeschwoeren.
Vieles an ihrem gemeinsamen Leben war Gewohnheit geworden. Gewohnheit war ein Zustand, den Humbolt verabscheute, und Nona verspuerte Gewohnheit als einen Verlust an Liebe.
Obwohl fuer Humbolt durch die Erlebnisse der letzten Jahre, auch durch schaerfere Klarheit, eben gewonnen aus Erfahrung, das Wort Liebe zu einem der unwirklichsten, der am meisten veraenderlichen Begriffe geworden war, akzeptierte er nach wie vor die Vorstellungen, die sich mit diesem Wort verbanden, als, wenn auch unsichere, Grundlage der Verhaeltnisse. Politik jeder Richtung hat sich bislang nicht auf Liebe gegruendet.

Religion hat unter dem Vorwand, die Liebe zu verbreiten, diese ehern eingedaemmt.

Sie waren zuvor in der kleinen Dorfkirche gewesen. Humbolt war an den Bildern einmal mehr aufgefallen, dass die Frauen immer erhoeht, sozusagen in den Wolken, die Maenner hingegen alt oder leidend dargestellt wurden. Diese Religion hatte alles Wirkliche ins Jenseits vertrieben, das Diesseitige am Jenseitigen scheitern lassen.
Sie gingen herum, besahen sich die alten Kunstwerke, fotografierten. Hin und wieder sahen sie nach der Beschliesserin, die ihnen die alte, nur zu allen heiligen Zeiten genutzte Kirche aufgeschlossen hatte. Sie hatten ein unangenehmes Gefuehl, denn die Frau erwartete offensichtlich mehr, als die blosse Betrachtung und Ablichtung der Bilder und Skulpturen. Humbolt dachte daran, wie lange er in einer Kirche nicht mehr gebetet hatte. Und er waere sich laecherlich vorgekommen, wenn er sich vor eines der hoelzernen, mit Gold und Farbe ueberzogenen Schnitzwerke, vor eines der Votivbilder hingekniet haette, um zu beten. vielleicht wars bloss mangelnder Mut.
Es fiel ihm die Erzählung über den einen Zenmeister ein, der eines Tages, an dem eisige Witterung herrschte, den Tempel betrat, eine der Buddhaskulpturen zerkleinerte, damit ein Feuer entfachte und sich daran die halb erfrorenen Hände und Füße wärmte. Der Hüter des Tempels war entsetzt und fragte fassungslos den Zenmeister, der in der Asche herumzusuchen begonnen hatte, was er den suche. Der Meister antwortete beiläufig, daß er nach Sariras suche. Der Hüter des Tempels bemerkte darauf, dass in einem hoelzernen Buddha niemals Sariras zu finden waeren. Sariras ist eine Art mineralischer Niederschlag, der nach der Verbrennung eines menschlichen Koerpers in der Asche gefunden wird und dem Buddhismus nach Auskunft ueber die Heiligkeit des gelebten Lebens gibt. Nachdem der Waechter des Tempels festgestellt hatte, dass in Skulpturen niemals solches zu finden waere, verbrannte der Meister des Zens saemtliche Figuren. Die Beschliesserin, eine einfache Frau mit abgehaermten Gesichtszuegen, die ihr Leben lang in stiller Andacht und Anbetung dieser Bildwerke verbracht hatte, wuerde diese Geschichte niemals verstehen. Nona gefiel vor allem ein Bild, das Maria in weit gebauschtem Gewande ueber den Wolken darstellte. Humbolt sah darin die Verherrlichung der Frau, fern der Realitaet.
Ihm war zuvor ein anderes Bildwerk aufgefallen. Jemand hatte die Statue einer halbnackten, nach vorne gebeugten Venus in eines der Fenster eines ebenerdigen, sich in miserablem Bauzustande befindlichen Bauernhauses, gestellt. Wie er spaeter erfuhr, lebte in diesem Hause ein arbeitsloser Trinker mit Frau und Kindern.

Humbolt liebte Nona noch immer, sah aber nur mehr selten eine weitere Entwicklung. Es lag nicht nur an ihnen, es lag auch an der Stroemung der Zeit, in der sie lebten. Manchmal veraenderte sich ihre Beziehung durch geringfuegig erscheinende Anstoesse von aussen.
Nona erzaehlte ueber ihre Erfahrung in gruppentherapeutischen Sitzungen, ueber ihre Erfahrung mit dem Psychologen und den gescheiterten Therapieversuchen, die ihr Problem nicht trafen. Sie hatte einige Zeit mit Humbolt und auch mit sich selbst grosse Schwierigkeiten durchzustehen. Humbolt musste sich eingestehen, dass er ihr das Leben nicht gerade leicht gemacht hatte, und das Ignorieren der vorhandenen Probleme war ihrem Selbstverstaendnis nicht gerade foerderlich gewesen. Da sie kein besonders kontaktfreudiger Mensch war und in der Wahl ihrer Freundschaften nicht sehr gluecklich, versuchte sie ihr Heil eben bei den Verhaltenstherapeuten. Dieser Prozess entfremdete die beiden mehr, als er ihnen nutzte. Humbolt, der Nonas Beweggruende zu kennen glaubte, konnte sie auch davon nicht abbringen, haette sie doch jeden Versuch in dieser Richtung als weitere Einschraenkung verstanden. Ihm waren die Haende gebunden. Spiegelfechterei wollte er nicht treiben. Er liebte sie, wollte Klarheit und auf einen gruenen Zweig kommen. Allen Widerstand, der seiner persoenlichen Entfaltung entgegengestellt war, fasste er als persoenliche Beleidigung auf und sein Blick fuer den wahren Sachverhalt war getruebt. Er sah im Therapeuten einen Gegner, der seinen Versuch, Nona wieder naeherzukommen, empfindlich stoerte. Aber, wie schon gesagt, er kehrte sich nicht dagegen, da er damit die Sache nur noch mehr verschlimmert haette. Aber es entstand daraus ein Zustand, der ihn fast vollkommen hilflos machte, und er musste all seine bisherigen Vorstellungen von Zusammenleben und Gemeinschaft revidieren.
Nona erzaehlte ueber die fehlgeschlagenen Therapieversuche.
Und sie waren deswegen fehlgeschlagen, zumindest aus der Sicht des Therapeuten, weil sich Nona diesen nie wirklich unterworfen hatte und an den scheinbar emanzipatorischen Gruppenritualen nicht wirklich innerlich teilgenommen hatte. In Wahrheit hatte Nona an Erfahrung und damit an Selbstverstaendnis gewonnen und sie war auf die scheinheilige Autoritaet, die die vollkommene Oeffnung des >Patienten< forderte, um mit der Gehirnwaesche beliebig agieren zu koennen, nicht vollkommen hineingefallen. In Wahrheit war der Erfolg aller Psychotherapie die Erkenntnis ueber die Funktion des Therapeuten. Ihn galt es zu durchschauen und ihn letztendlich als falsche Autoritaet aufzuheben. Humbolt fuehlte sich in seiner Rolle nicht gerade besser, denn auch er musste einen Teil seines Selbstver- staendnisses ueber Bord gehen lassen, um der neuen Situation gerecht zu werden. Viele dieser Mietseelenwaescher erfuellten die Funktion des vorgetaeuschten Verstaendnisses. Der menschliche Gedankenaustausch wurde damit auf ein willfaehriges Dienstleistungsniveau gebracht. So gesehen waren sowohl Therapeut, wie auch Patient, insgeheim Gutheissende einer Gesellschaft, die als entscheidende Grundlage nur den Geldverkehr akzeptierte.
Humbolt sah darin einen weiteren Eingriff in jene Freiheit, auf der er einmal hoffte, sein Leben und sein Zusammenleben zu gruenden.
Allerdings hatte er ebenso dazu geneigt, Nonas Leben zu verwalten. Indem er ihr seine Vorstellungen erklaerte, versuchte er doch nur, sie an ihn zu binden. In den meisten Faellen ist der Begriff, den Menschen vom moeglichen Weg haben, nur ein Begriff ueber eine durch Ritualisierung anerzogene Verhaltensform. Und der Initiierte neigt dazu, deren Regeln weiterzugeben und damit den Einflussbereich des Ritus zu erweitern.
Eine eigentuemliche Verknuepfung von Sexualitaet und Agression erlebten sie am Vorabend auf dem grossen Platz der kleinen Gebirgsstadt.
Sie waren Krampusschauen gegangen. Die laut scheppernden Kuhglocken, die rasselnden Ketten, die archaischen Masken mit den Stierhoernern, der dionysische Tanz der in zottelige Felle gehuellten Maenner, versetzten sie in eine archaische Zeit. Die Rutenschlaege der jungen Maenner richteten sich vor allem gegen junge Maedchen, die sich diese symbolisch gemeinte Agression durchaus gefallen liessen. Hinter dem Treiben der Nikolausnacht, dem Kampf zwischen Gut und Boese, stand ein uraltes Mannbarkeitsritual. Der uralte Stierkult einer sich verhuellenden Maennergesellschaft, die ihre Regeln im Dunkeln ausmacht und sich Frauen in einem kriegerischen, wenn auch symbolischen Akt unterwirft. Vor ihren Augen rollte ein archaisches Zerrbild ab, ohne dass ihnen der tiefere Sinn gleich zu Bewusstsein kam.
Nona gefiel das laute und grelle Treiben.

Die Macht der Einweihungs- und Trennungsriten lebt in unseren Seelen fort. Jede neue Gesellschaftsform hat einen Teil der alten uebernommen. Modifiziert, verwandelt, manchmal unkenntlich, lebt sie in der neuen fort. Die menschliche Kultur gleicht einem Palimpsest.
Humbolt hatte die Macht, die diese Riten heute noch auf Menschen ausueben, vor Jahren in Berlin erfahren. In einer modernen Stadt, ausgeruestet mit den neuesten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, einer pulsierenden Metropole mit aufgeschlossenen Bewohnern.
Eine der fuehrenden Berliner Buehnen brachte eine Bearbeitung eines alten, griechischen Stueckes, dessen Vorbereitungsspiel einen tiefen Blick in die Riten und Mythen der Antike gewaehrte. Im Verlaufe dieser Einuebung wurde das Publikum nach Geschlecht getrennt. Humbolt hatte das Programmheft nicht durchgelesen, er wusste von diesem Vorgang nichts und seine Begleiter hatten ihn auch nicht darauf aufmerksam gemacht. Diese Trennung fand nach der ersten Spielpause statt. Humbolt betrat wieder den Theaterraum, wollte auf seinen ursprueng-lichen Platz zurueck und wunderte sich, dass ihn ungefaehr in der Mitte des Raumes zuerst ein Schauspieler und dann irgendein Aufpasser des Theaters zurueckhalten wollte. Humbolt wurde zornig und waere fast taetlich geworden, denn gerade in einem linksorientierten Theater erwartete er sich damals keine Aufpasser. Wie sich spaeter in einem uebertragenen Sinn herausstellte, war dies ein grosser Irrtum. Die Theaterleute gaben ihren Widerstand auf und Humbolt stand ploetzlich in der Mitte des Raumes.
Don't pass the borderline.
Das weibliche Publikum, nun saeuberlich vereint, schaute zum Teil erbost, empoert und erstaunt auf ihn. Humbolt hielt die Konzentration dieser vielen, auf ihn gerichteten Augenpaare nicht durch und trat den Rueckzug an. Die Theatermacher hatten einen uralten Trick vollzogen; die Geschlechtertrennung. Sich selbst erhoben sie damit zu Priestern und fuer den weiteren Verlauf der Vorstellung zu Herren der Geschichte. Humbolt fuehlte sich ziemlich betreten und brauchte dringend ein Bier und konnte bloss eine Berliner Schorle ergattern.
Jahre spaeter las er in einem Buch eines der einflussreichsten amerikanischen Kultursoziologen ueber bestimmte Steuerungstechniken im zwanzigsten Jahrhundert und meinte zu erkennen, dass viele der sich avantgardistisch nennenden Bewegungen bloss eine Abart des alten Priester- und Kastenspiels waren. Denn auf nichts gruendet sich Herrschaft besser, denn auf Trennung, Vereinzelung, Tabuisierung. Selbst die sich fortschrittlich gebaerdende Linke fiel auf diesen jahrtausende alten Plunder herein. Obwohl sie gerade an der katholischen Kirche, die diese Technik mit grossem Erfolg ausgeuebt hatte, ebendiese kritisierte.
In manchen katholischen Landgemeinden sind heute noch Maenner und Frauen zur Linken und zur Rechten des Altares gruppiert. Nichts anderes, als ueberkommenes Symbol des archaischen Ritus, an dessen Grenze nur der Schamane und seine ausgewaehlten und in die Geheimnisse eingeweihten Diener stehen.
Die Priester des Kults, die Seelenfaenger von vorgestern und die heimlichen Verfuehrer von heute betreiben ihre Geschaefte nach wie vor. Das neue Sektenwesen, das mit den aeltesten Mythen der Menschen zeitgemaess geschminkt operiert, haelt die Menschen im Taumel und dient nicht ihrem Wohlergehen. Die Menschheit erlebt eine neue Hochbluete des Schamanismus, verborgen hinter Massenprintmedien, ausgekluegelten elektronischen Einrichtungen, verborgen in der gigantischen Film- und Zeitungsindustrie, in den variablen Ikonen des 20. Jahrhunderts.
Humbolt sah nach Nona und wusste nicht, wie er ihr das alles sagen sollte. Ihre Therapeuten waren nichts anderes als Schamanen und ihr Glaube an die neue Wissenschaft nichts anderes als der Glaube an die alten Priester.
Er erinnerte sich an eine makabre Leichenfeier. Waehrend des Leichenschmauses anlaesslich des Ablebens der Bauersfrau, die sich vor einen Zug geworfen hatte, erhaengte sich ihr Mann im Dachboden des Hauses.
Frauen denken auf ihre Art voraus, dachte Humbolt. All die Jahre mit Nona. Selbst wenn sie sich von ihm trennte oder er von ihr, wuerde es doch bald wieder Nona sein. Nona von vorne, Nona von unten, Nona von oben, Nona von hinten, Nona ueberall. Nona bluehend, Nona sinnlich, Nona geniessend, Nona abweisend, Nona grausam, Nona besaenftigend, Nona stoerrisch, Nona jubelnd, Nona leuchtend, Nona im Schmerz, Nona im kleinen Finger, Nona zankend, Nona triumphierend, Nona fordernd, Nona zwingend, Nona bettelnd, Nona verfuehrerisch, Nona einschmeichelnd, Nona kratzend, Nona streichelnd, Nona fluesternd, Nona schreiend, Nona petzend, Nona veraechtlich, Nona ohne Scham, Nona geziert, Nona auf, Nona ab, Nona hier, Nona dort. Nona Theater, Nona Lust, Nona Schau, Nona wirklich, Nona Schein, Nona sein.
Daran wird sich nichts mehr aendern. Jede wirkliche Aenderung kaeme ihm wie eine absolute Offenbarung vor. Alle Sinne an dieser unmoeglichen Offenbarung orientieren.
An Einfallsreichtum war Nona nicht zu schlagen. Sein eigener Verstand verzweifelte manchmal daran, und er wusste dass es ausser des Gefuehls, keine gemeinsam verbindende Logik gab. Nicht, dass sie unlogisch gedacht haette. Liebe vertraegt eben keine Ordnung. Sie hatten ihre Lust hemmungslos durchge- setzt. Nichts konnte sie daran hindern. Umso schmerzlicher empfanden sie nun die Abwesenheit dieser Lust, obwohl sie wussten, dass diese nicht verloren gegangen war, sondern sich bloss in einen unergruendlichen Winkel verkrochen hatte. Und aus dem wuerde sie auch wieder hervorbrechen, und sie wuerden so ueberrascht sein, wie sie von Anfang an davon ueberrascht wurden. Ihre Leidenschaft war ihnen so selbstverstaendlich vorgekommen, dass sie an Hindernisse einfach nicht dachten.
Es war von vornherein Leidenschaft gewesen, in der Hass und Liebe, Freude, Leid, Begehren und Zerstoeren, ineinander uebergingen. Dieses in den andern Hineindringen, sich im anderen ausloeschen, die Identitaet aufgeben, sich hingeben, hergeben, ruecksichtslos wegschenken, bis an den Punkt, an dem der kleinste Verrat zur Katastrophe wird, zur existentiell bedrohenden Katastrophe.
Bis zum Einbruch der Kaelte, aus der keine Botschaft mehr hinausdringt.

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