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Humbolts Reise :
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part.7
Hoffnungslos, Harmonie zu erreichen, hoffnungslos.
Sich immer mehr in einem Gespinst aus Nichtverstehen verfangen.
Die Schuld dichter und dichter weben. Schluss mit
den Traeumen, Schluss mit den Hoffnungen. So
pflanzen sich die bedrohlichen Bilder fort.
Ich bin so in die Irre gegangen, wie du in die Irre
gehst. Die Gefuehle blenden. Jede Gefuehlsabweichung, die nicht als Steigerung empfunden wird ,
bringt Schmerzen mit sich. Wo die Empfindung
staerker ist, ist auch die Qual groesser. Und was
haben wir nicht alles in Kauf genommen, um die
Empfindung stark zu halten.
Lange Zeit stand er auf der Bruecke, ueber den
verwitterten, graufasrigen Balken gebeugt. Er sah
hinunter in das Bachbett, auf das glatte Gruenbraun
der Bachsteine, sah die in der Stroemung hin und
herwogenden Algen und folgte mit den Augen den
in raschem Zick Zack hin und her eilenden fingerlangen Fischen.
Er sah hin und dachte an nichts weiteres.
Dann hob er den Kopf und blickte im flachen
Winkel gegen das hinstroemende, wirbelnde, in
kleinen Strudeln sich ballende, aufloesend tanzende
Wasser, sah die sanft gewoelbten, mit Straeuchern
bewachsenen Uferboeschungen, den weit ins Tal
hineinreichenden Horizont und die knapp umliegende
Landschaft.
Er wartete, bis das Bild kippen, das Wasser stille
stehen und die Landschaft, er und die Bruecke in
schwindelerregendem Tempo abfahren und die Fahrt
nach irgendwo, weg aus dem Jetzt, weg aus dem Raum,
ihren Anfang nehme werde.
Gestern, um die Mittagszeit war er mit ihr vor Gericht
gestanden. Er hatte eine scharfe Handbewegung vor
dem Kreuz gemacht und die Richterin sah erschrocken
auf. Er dachte und wiederholte es sich immer wieder:
VOR DEM GESETZ.
Er hoffte noch auf Versoehnung, weil sie zu ihm
freundlich gewesen war. Aber sie wars nur deswegen,
weil sie nicht einmal den Verhandlungssaal wusste.
Ihre Ladung lag zuhause, unter einem Haufen Reklamezetteln.
Nach der ausgesprochenen Scheidung stieg sie in den
Paternoster, ohne noch ein Wort zu sagen. Er ging die
Stufen hinunter, rasch, und in jedem Stockwerk sah
er sie im Liftschacht auftauchen.
Auf der Strasse sah er ihr noch lange nach.
So hatte er es sich im Zug gedacht, auf dieser Reise,
die von Jahr zu Jahr weniger Zeit in Anspruch nahm.
So, wie die Entfernungen mit zunehmenden Alter
abnehmen, die Welt an Unendlichkeit verliert, die
unueberbrueckbaren Entfernungen der Kindheit in
schaetzbare Masstaebe verwandelt werden und das
Bild der Welt immer dichter und weitlaeufiger erscheint.
Im Ort galt er noch immer als der, der er einmal
gewesen war. Er fand sich leicht in die alte Sprache,
die alten Empfindungen hinein. Sich einfach in ein
Lokal setzen und das Gefuehl haben, als ob alles nur
vierzehn Tage her waere, wenn auch Jahre vergangen
waren, Menschen verstorben, Kinder hinzugekommen,
die Jugendfreunde die Rollen der Erwachsenen im Ort
angenommen haben, sich Schritt fuer Schritt, Jahr fuer
Jahr in das anfaenglich beaengstigende Interieur der
moeglichen Plaetze vorgearbeitet haben. Er war
draussen geblieben, weggegangen und trotzdem einer
von ihnen, dem sie vertrauten, und nach kurzen
Fragen nach dem Woher und dem Wohin, Worueber,
Wie und Wo gingen sie ueber zu alltaeglichen Saetzen
und Wahrnehmungen, und die Rede stroemte dahin,
wie ein klarer Film, der alles an bestehender
Wirklichkeit in sich trug. Doch liess er niemanden
mehr wirklich an sich herankommen. Sie nahmen
diese Mauer nicht wahr, und das war gut so. Und er
war dankbar dafuer, dass er sich hier nicht stellen,
nicht rechtfertigen und nicht beweisen musste.
Die Anonymitaet der grossen Staedte ist eine grosse
Illusion, den nichts haelt diese sosehr zusammen,
wie die offene Neugier, das bestaetigte Vorurteil,
und nirgends wird schaerfer und grausamer
selektiert, als in den grossen Staedten.
Er verliess die Bruecke und ging den Weg entlang
des Baches in Richtung Osten, auf das Moor zu.
In diesem Landstrich gab es eine Reihe von Hoch-
und Niedermooren, sowohl im Tal diesseits, als
auch jenseits des Berges. Sie waren Ueberreste einer
uralten Gletscherlandschaft. In einem dieser Moore
hatten sie als Kinder ihre Nachmittage verbracht.
Sie durchstreiften es in ausgedehnten Zuegen.
Getarnt durch kaum einsehbare Schilffelder
drangen sie ein und eroberten sich Plaetze und
Strauchinseln, an denen sie vollkommen ungestoert
ihren Traeumen, ihren Spielen nachgehen konnten.
Auffallend der Wechsel der Gewaesser, in den
meisten Graeben, Laeufen und Tuempeln Moorwasser, von seltsam dunkelrostbraun verlaufender
Farbe, doch ebenso gab es an mehreren Stellen
kleine Teiche voll klarsten Wassers, Quellen, die
tief aus dem Boden an die Oberflaeche drangen.
In diesem Moor fanden sie auch anderes. Die
zurueckweichenden Truppen liessen hier auf der
Flucht ihre Waffen, Munition, Panzerfaeuste,
Granaten und aehnliches mehr zurueck.
Sie sammelten das Pulver aus dem hinterlassenen
Kriegsmaterial, brachten es in atemberaubend
meterhohen Stichflammen zur Zuendung. Fuer
sie war es ein selbstverstaendliches Spiel, eine
Mutprobe.
Sie bildeten Gangs und bekaempften einander
erbittert und wachten eifersuechtig ueber ihre
Terrains.
Der Krieg pflanzte sich in den Kindern fort
und die Kinderwelt war nichts anderes, als ein
Spiegelbild der misstrauischen, zerstoerten
Erwachsenenwelt.
Sie hielten sich fern von den Erwachsenen und
ihre Spielflaechen waren finstere, vollgerammelte Schuppen, Dachboeden, dunkle Vorhaeuser, mit Bueschen verwachsene Gruende,
abgestellte Autowracks, demontierte Fabrikshallen, deren Keller sich weitlaeufig unter der
Erde verloren, und eine alles erlaubende und
herausfordernde schroffe Landschaft , in der
sie ihre eigenen Gesetze schufen.
Und sich Gefahren aussetzten. Eines Tages
explodierte einem der Zuender einer Panzergranate in der Hand und riss sie ihm weg.
Der Reporter einer Tageszeitung gab ihm
zwanzig Schilling fuer das Interview, und
der Bub war noch stolz darauf, jetzt, wo er
keine Hand mehr hatte.
Die Welt der Fabriksarbeiter, Hilfsarbeiter
und Tageloehner, der Kleingewerbetreibenden und Lebensmittelhaendler, der
Armenaerzte und Volksschullehrer, der
mittleren Angestellten und der kleinen
Unternehmer, deren Haeuser und Villen
spaerlich im Viertel verstreut waren, das
von der Fabrik und zwei grossen Zinskasernen und der Volksschule beherrscht
war, am Rande die kleinen Gehoefte der
Bauern.
Zentral liegen die Kirche, die Handelshaeuser und Wohnstaetten der alteingesessenen Buerger und die grosse Fabrik.
Die Uebergaenge sind nicht immer gebrochen,
manchmal fliessend, doch mehrheitlich zeigen
sich die Verhaeltnisse grob unterschiedlich,
unvereinbar.
Die einfachen Leute leben mit der Vermutung, mit Vermutungen ueber die Welt.
Nur ueber das naechste wissen sie Bescheid.
In allem anderen sind sie blosser Vorstellung
ausgeliefert. Man kann sogar soweit gehen und
sagen, dass sie ausserhalb des Interessanten
leben. Ein zutiefst provinzielles Leben leben.
Provinziell und abgeschieden. Nicht, dass ihr
Leben unwirklich waere oder bedeutungslos.
Sie bewirken als Personen wenig, kaum etwas.
Sie erscheinen in Gruppen, Klassen und Statistiken.
Erst bei naeherem Hinhoeren und Hinsehen sind
ihre Probleme zu bemerken. Sie sind aeusserst
darauf bedacht, ihre Schwierigkeiten zu vertuschen, zu verschweigen, niemand, ausser die
naechsten Verwandten an sich herankommen zu
lassen. Von vornherein sind sie auf Anstand aus,
auch um den Preis der aeussersten Verleugnung
ihrer selbst. Als ob es nichts anderes gaebe, als
unangetastet, unbemerkt und unbefragt durch die
Welt, durch ihre kleine, begrenzte Welt zu gehen.
Einig sind sie sich in Ablehnung aller Verletzung,
aller Ueberschreitung dieser stillen Vereinbarung.
Sie sind Menschen, die niemals mit den Behoerden,
mit dem Gesetz, mit der oeffentlichen Moral in
Konflikt kommen. Jegliche Konfrontation in
diese Richtung , selbst wenn sie ihrerseits mit
Recht bestuende, wuerde fuer die einfachen Leute
eine Schande darstellen. Sie treten niemals hervor.
Ohne im Hintergrund zu sein, bleiben sie ohne
Erscheinungsbild. Ihre Sprache ist merkwuerdig
vergleichend. Sie bestaetigt immer wieder dieselbe
Lebenseinstellung, verhilft immer den alten Vorurteilen zur Gueltigkeit, stellt alles ausserhalb des
Lebensbereiches als unnoetig dar. Sie verweigern
die Einsicht. Sie wollen nicht zur Kenntnis nehmen.
Arbeits- und Wohnwelt sind fein saeuberlich getrennt.
Privates mit OEffentlichem nie vereinbar. Sie sind
der Schlag Mensch, mit dem die Obrigkeit,
die Politiker, die Unternehmer und Haendler am
zufriedensten sind, mit dem sie immer rechnen
koennen. Sie, die niemals fehlgetreten sind, niemals
einen eigenen Weg gesucht haben, bestimmen
das Wesen der Gesellschaft. Es genuegt vollkommen, wenn sie aufrecht gehen koennen, sich
ordentlich kleiden, Bestellungen richtig angeben
koennen, wenn sie hin und wieder die Tagespresse
im kleinen Format lesen. Fuer alle weitere
Anpassung sorgt das taegliche Fernsehprogramm.
Am Arbeitsplatz wird ihnen nichts Schwieriges
abverlangt. Es genuegt vollkommen, wenn sie die
geforderten Handgriffe und Taetigkeiten nur genuegend rasch und genau wiederholen. Sie sind
hoeflich, aber nie zuvorkommend. Sie streben nach
einem gesicherten Leben, im Wesen sind sie wunschlos. Sie verheiraten sich, weil das Leben zu zweit
eben die Grundlage des Lebens zu sein scheint. Von
Begierde wollen sie nichts wissen. Sie zeugen Kinder,
weil der Zweck der Ehe eben das Kinderkriegen ist.
Die Erziehung uebernimmt der Staat und mit den
Kindern erzieht er die widerspruchslosen Eltern mit.
Die billigen Moden nehmen sie bereitwilligst auf.
Sie kosten keine grossen Anstrengungen. In ihren
Reihen achten sie auf moeglichst grosse Gleichheit.
Nichts darf besonders auffaellig, weder im Guten
noch im Schlechten sein. Aus einem geordneten
Haushalt entsteht ein geordneter Staat. So ist ihre
Rechnung. Und ist der Staat einmal in Unordnung
geraten, rufen sie nach dem Ordner, um ihre stille
Ordnung ungefaehrdet weiterleben zu koennen.
Sie waehlen ihre Vertreter nach eben diesen Massstaeben und kluge Politiker nutzen dies aus. Im
Zweifelsfall, nach bekannt gewordenen Korruptionsaffairen, haben sie sich noch nie in ihrer Wahl,
sondern nur im Charakter des Gewaehlten geirrt.
Von der kleinen Untermiete ziehen sie in die
Hauptmiete, von der Hauptmiete in die Eigentumswohnung und von da an in ein kleines Eigenheim
im neuen Siedlungsgebiet. Ein Mann muss einen
Baum pflanzen, ein Kind zeugen und ein Haus
bauen. Und eine Frau muss eine verstaendige und
umsichtige Weggefaehrtin abgeben.
So sind sie, die kleinen Leute. Fuer alles haben sie
ein Sprichwort . Und da zu bestimmten Zeiten
Andersdenken auch etwas wie Suende sein kann,
geben sie das Denken ueberhaupt auf und ueben
sich vor allem im Mitdenken. Die einfachen Sprichwoerter bilden einen stillen Gesetzeskodex, der
alle Ueberschreitung bedroht. Die einfachen Leute
sind das Zaehe, Staatserhaltende, das Staatstragende.
Und nichts schuetzt der Staat mehr, als die einfachen
Leute. Sie, die am wenigsten Schwierigkeiten machen,
die von Schwierigkeiten am wenigsten wissen wollen.
Alles Aussergewoehnliche ist ihnen suspekt. Sie bevorzugen vor allem das Gewohnte. In der Auswahl ihrer
Idole erweisen sie sich ebenfalls nicht besonders
einfallsreich. Schlagerstars, die von unverbruechlicher Treue singen, Fussballer der Spitzenklasse,
Politiker mit vertraulichem Schmaeh, bieten ihnen
den Gespraechsstoff, den sie in ihren kleinen Rahmen
pressen koennen. Ueber alles andere hegen sie Vermutungen. Und um sich nicht allzu klein vorzukommen, vermuten sie das Schlechteste.
Humbolt war an einem geschichtslosen Ufer angelangt.
Die Landschaft schien in sich still zu stehen.
Vor seinen Augen breitet sich eine weite Sumpflandschaft im trueben Licht des herbstlich feuchten
Morgens aus. Kleine Kanaele durchziehen das Moor,
und in diesen Kanaelen steht rostbraunes Wasser,
Wrackwasser, Moorwasser, Sumpfwasser. Im Morgengrauen im Trueben fischen. Unverdaute Reste der
Gletscherzunge. In den Sumpf hineingehen, nach den
klaren Tuempeln suchen. Es gibt Tuempel mit reinstem,
klarstem Wasser in diesem Sumpf. Der Nebel zieht die
Haenge der rings umliegenden Berge hinauf.
Im alten aufgelassenen Stollen nach Kupferbrocken
suchen. Auf der Suche nach Vergangenheit die Gegenwart als geringfuegig erkennen.
Die Grenze am Sumpf ueberschreiten. Durch das Schilf
brechen, kaltes Wasser in die Stiefel eindringen spueren.
Nach den Tuempeln mit reinem Wasser suchen und
daraus trinken wollen. Ueber die Moraenen hinstolpern.
Den Sumpf umgehen, ihn umkreisen, ihn von Nord
nach Sued und von Ost nach West durchqueren. Den
Mittelpunkt durch drei verflochtene Pfaehle kennzeichnen. Zeichen hinterlassen, in der truegerischer
Hoffnung, dass Nachkommende diese Zeichen verstuenden. Schwarzer, speckiger Morast, knickendes,
mannshohes Schilf, dunkle, rostrote Wasserflecken.
Mischwaldbestand auf kleinen Inseln. Eine Huette aus
armdicken Staemmen errichten wollen. Auf Stelzen
den Sumpf ueberschauen wollen. Ein Bild des Gelaendes
haben wollen.
Einen hoelzernen Schrein in den Mittelpunkt des
Gelaendes stellen. Aus feuchter Rinde, duerren Aesten,
sorgsam gesammelt, ein Feuer entzuenden. Wolken aus
Rauch und waessrigem Dunst.
Einen Weg aus Knuetteln legen, vom Mittelpunkt des
Sumpfes nach dem Tuempel hin. Hin zur Insel, hin zum
klaren Wasser. Hin zu festem Boden, bedeckt mit Moos,
Graesern und Farnen. Eine Schnur vom Tuempel zur
Insel ziehen, ein Dreieck bilden und dabei das Feuer
nicht ausgehen lassen. Fische mit den Haenden, allein
nur mit den Haenden, aus dem klaren Wasser holen.
Mit Staeben durchbohren und ueber dem Feuer braten.
Auf den Hochsitz steigen und im Osten die Sonne hochziehen sehen und ihren Aufstieg mit einer kreisenden
Bewegung des Kopfes vorwegnehmen.
Ueber dem Wildbach liegt der Nebel. Das Wasser
dampft. Die Wolken haengen in den Baeumen, an den
steil abfallenden Berghaengen, zu beiden Seiten des
Wildbaches. Ueber den Kuppen jagt der Donner. Aus
dem Wasser steigen Nebelschwaden. In den Wolken
grollt der Donner.
Das Kanu an der weiten Biegung ins Seichte bringen.
Sich hineinschwingen, zurechtruecken, das Paddel eintauchen, in langen, ruhigen Zuegen Stroemung und
Fahrt gewinnen. Mitten in der Stroemung sein. Fast
in Augenhoehe das nervoes tanzende , wellende,
sprudelnde, gischtende Wasser. Links und rechts
bewaldetes Ufer, uebergehen in felsiges Steilufer
und umgekehrt. Aus der Stroemung in die Schnelle
hinein, vom Strudel in den Schwall, aus dem Schwall,
aus der Schnelle heraus in die Stroemung hinein, im
tanzenden Boot auf dem tanzenden Wasser, im Regen,
im Nebel, unter dem Donner den Bach hinunter, dem
Kehrtwasser entgegen, von Schnelle zu Schnelle, von
Schwall zu Schall, mit dem Strom halten, auf dem
Strom treiben im gurgelnden, wirbelnden, tosenden
Wasser den Bach hinunter, von Kehre zu Kehre, von
Biegung zu Biegung, durch den Felskanal hindurch,
das Weite suchen, am Ufer stranden.
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