JOHN LE CARRÉ UND DIE BRITISCHE SPY FICTION

© Matthias Lehar

Der britische Agent Alec Leamas erwähnt gleich zu Beginn des Romans The Spy Who Came In From The Cold, dass der Nachrichtendienst nur ein moralisches Gesetz kenne: Den Erfolg, der alle anderen Mittel heilige. Der im Todesjahr J. F. Kennedys erschienene Thriller hat hinsichtlich unlauterer Geheimdienstpraktiken nichts an aktueller Brisanz verloren. The Spy, ein Werk des 1931 in Südengland geborenen Autors John le Carré, gilt als unübertroffener Klassiker der Spionageliteratur.

Mit der literarischen Qualität seiner Romane verhalf le Carré dem Genre in den 60er Jahren zu einer neuen Blüte. Der Grund für den seit fünfzig Jahren nicht abreisenden Erfolg liegt u.a. darin, dass er mit besonderer Authentizität die Geheimdienstpraktik beschreibt, die Legitimation derselben hinterfragt und die Welt nicht holzschnittartig in Schwarz und Weiß aufteilt. So lautet zumindest der common sense der Literaturkritik, vor dessen Hintergrund der Artikel einen kleinen Beitrag zum spannenden, aber nicht ganz unproblematischen Genre der Spionageliteratur leisten möchte.

HINTER FEINDLICHEN LINIEN

Die englische Spionageliteratur entwickelte sich in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts im Anschluss an den Ersten Weltkrieg, in welchem erstmals Agenten im großen Stil eingesetzt wurden. Lange Zeit stand sie im Schatten der großen englischen Kriminalliteratur, als deren Derivat man sie verstand. So bediente sich die Literaturkritik z.B. des Hilfsbegriffes "Secret Police Literature", um diese Abhängigkeit zu unterstreichen. In Reclams Krimi-Lexikon sucht man le Carrés Namen allerdings vergeblich. Dies liegt daran, dass sowohl Handlungsverlauf als auch Charaktere grundlegende Unterschiede aufweisen und Spionageliteratur heute als eigenständiges Genre gilt.

Der moderne englische Spionageroman wird durch die Antipoden Ian Fleming (1908-1964) und John le Carré repräsentiert. Julian Symons, seinerseits Verfasser von Detektivromanen, unterschied in einem 1968 veröffentlichten Artikel zwei Entwicklungslinien des Spionageromans: "pipe dream", womit melodramatische Thriller mit zunehmend filmischer Struktur gemeint waren, und "reality". Für ersteres kann Fleming als Paradebeispiel angeführt werden. Der spy thriller, der schon immer "ein Vehikel politisch konservativer oder reaktionärer Staatsauffassung" war, erfreute sich mit ihm einer noch nie dagewesenen Popularität. Propaganda muss bei Fleming nicht mit subtiler Analyse herausziseliert werden. Die Bösewichte, die aus welchen Gründen auch immer nur die Zerstörung Englands im Sinn haben, die Stereotypisierung der Sowjets oder der Deutschen, zu denen Fleming bekanntlich Ressentiments hatte - das alles ist der Stoff, aus dem James Bond gemacht ist. Während sexuelle Beziehungen bei Fleming geradezu strukturierend auf den durch schnelle Schauplatzwechsel gekennzeichneten Handlungsverlauf wirken, sucht man bei le Carré vergeblich nach Erotik. Nur zwischen den Zeilen lässt sich vermuten, dass die Protagonisten intim geworden sind. Le Carré steht hier in der Tradition des klassischen englischen Detektivromans, der bis in die 1930er Jahre die Schilderung von körperlicher Liebe vermied.

Gemeinsam haben Fleming und le Carré, dass beide beim Secret Service tätig waren. Sie waren daher in der Lage, aus eigener Erfahrung den Innenbetrieb schildern zu können. Hinsichtlich des Realismus bei le Carré ist es jedoch verständlich, warum seine Romane weltweit von Geheimdiensten als Schulungsmittel herangezogen werden konnten. Dieser Umstand brachte ihm dann auch Kritik von ehemaligen Kollegen ein, die sich für die literarische Zurschaustellung ihres Berufs nicht erwärmen konnten.

JOHN LE CARRÉ: A DELICATE TRUTH

Zwischen The Spy und seinem letzten, im Vorjahr erschienenen Roman A Delicate Truth ist ein halbes Jahrhundert vergangen. Seine Romane befassen sich zeitnah mit Konflikten der Gegenwart. Ein Thema zieht sich dabei allerdings wie ein roter Faden durch das Oeuvre des Briten: Der Kampf des Individuums in einem System, dessen Institutionen jedes Mittel heiligt, solange es von staatlichem Interesse ist. Sei es nun der MI6, CIA, FSB, Mossad, DGSE oder eben die NSA - le Carré schildert uns die eingangs formulierte Logik des Nachrichtendienstes. Der damit für die Helden le Carrés einhergehende Gewissenskonflikt stellt diese vor die Frage, ob sie sich bedingungslos anpassen oder versuchen, sich als Mensch gegen das vorherrschende System zu behaupten.

A Delicate Truth handelt von Lobbyisten und bestechlichen Politikern, die hinter den Kulissen der US-amerikanischen Irak-Invasion Wirtschaftsbeziehungen aufbauen. Eine private Sicherheitsfirma, die dem rechten Flügel der USA nahesteht, infiltriert das britische Parlament und gewinnt MP Fergus Quinn für den Krieg gegen den globalen Terror, kurz "G-WOT" ("Global War On Terror"). Dieser willigt im Jahr 2008 der von offizieller Seite nicht autorisierten Anti-Terror-Mission "Operation Wildlife" ein, bei der ein islamistischer Waffenhändler auf Gibraltar entführt werden soll. Im Verlauf der schlecht vorbereiteten Mission entkommt der Waffenhändler, wohingegen eine Mutter und ihr Kind versehentlich erschossen werden. Der Ausgang der Mission wird vertuscht und niemand zur Rechenschaft gezogen. Als drei Jahre später jedoch der in Ungnade gefallene Leiter des britischen Militäreinsatzes Jeb den Versuch unternimmt, Beweise zu sammeln und die Drahtzieher der Geheimmission zu überführen, beginnt ein ungleicher Kampf um die Wahrheit.

Der Held des Romans ist Toby Bell, mit dem Jeb auf der Suche nach Verbündeten Kontakt aufnimmt. In seiner früheren Funktion als Privatsekretär des Ministers Quinn versteckte Bell ein Tonbandgerät in dessen Büro und zeichnete eine geheime Unterredung mit dem Waffenlobbyisten Crispin auf. Nachdem er vom tragischen Ausgang der illegalen "Operation Wildlife" erfährt, unternimmt Bell alles in seiner Macht stehende, um die Öffentlichkeit von diesem Vorfall zu unterrichten. Über ihn schreibt Carré: "He was in that sense the most feared creature of our contemporary world: a solitary decider." Bell, der nach eigenen Worten an die wichtige Rolle Großbritanniens in einer postkolonialen Welt glaubte und daher einen Dienst im Außenministerium annahm, wird am Ende zum Whistleblower. Er entscheidet sich gegen die Spielregeln seiner Zunft und trägt dazu bei, ein Stück Gerechtigkeit wiederherzustellen. A Delicate Truth kann als Kritik an den Lobbyismus des 21. Jh. und damit verbundenen Schattenregierungen angesehen werden. In dieser Kritik delegiert le Carré die Verantwortung nicht zuallererst an die federführende Institution, sondern sucht sie vielmehr im einzelnen Akteur und unberechenbaren Einzelkämpfer, der mit der jeweiligen Institution assoziiert wird. Daher räsoniert Bell gegen Ende des Romans, wie der Lobbyist Crispin in Hanna Arendts These der Banalität des Bösen passt. Dieser repräsentiert nämlich auf anschauliche Weise jenen Schreibtischtäter, den Arendt als Augenzeugin der Nürnberger Prozesse im Sinn hatte. Crispin - wenn auch kein Repräsentant des Dritten Reiches - ist kein durch auffällige Attribute markierter Bösewicht à la Dr. No, sondern ein Durchschnittsmensch und Unternehmer, wie wir ihn auch im Alltag begegnen können. An dieser Stelle wird ein Muster bei le Carré deutlich: In den eigenen Reihen befinden sich neben Rechtschaffenden leider auch solche, die es nicht sind, und dadurch einen Kampf außerhalb der gewohnten Bahnen provozieren.

Der Grandseigneur der Spionageliteratur bedient sich der hetero-diegetischen Erzählposition: Er ist ein Erzähler außerhalb der Handlung. Kein Augenzwinkern des Autors, kein Kokettieren mit dem Leser - le Carré lässt lieber einen vertrauenswürdigen Mittelmann sprechen, dessen subtilen Hinweisen und Spuren wir gerne folgen. Diesen gehen wir am Ende solange nach, bis wir an die Wiederherstellung einer Weltordnung zu glauben beginnen. Es handelt sich um säkulare Erlösungsliteratur, in deren Zentrum Englands humanistische Antworten auf eine aus den Fugen geratene Welt stehen.

Am Ende sind es schließlich die wahren Diener Großbritanniens - ein angehender Diplomat und ein etwas verschrobener, britischer Soldat der Spezialeinheit, die die Machenschaften einzelner, vom rechten Weg abgekommener Subjekte durchkreuzen. Ihnen kommt die Rolle zugute, das Gleichgewicht der Mächte wiederherzustellen, für Gerechtigkeit zu sorgen und mit ihrem Exempel den verirrten Staatsdienern Englands den Weg vorzuleuchten. Sie sind der Garant für die höhere Moral Englands in einer postimperialen Welt, die den Kalten Krieg hinter sich gelassen hat, aber fortwährend neue Feinde gebärt.

BETWEEN THE LINES: DER AUTOR ALS SPION

Es lohnt sich auch ein Blick auf einige biographische Stationen le Carrés, der an englischen Eliteunis Deutsch studierte. Dort wurde er mit der Idee konfrontiert, dass England im postkolonialen Zeitalter eine historische Mission zu bestreiten hätte und seine frühere Bedeutung wieder erlange müsse. Angeblich arbeitete er später im MI5 unter Maxwell Knight, der erfolgreich gegen die in den 60er Jahren stärker werdende kommunistische Partei in England vorging. Vor diesem Hintergrund empfiehlt sich eine kritische Lektüre von The Spy, indem die Superiorität des eigenen Geheimdienstes trotz selbstkritischer Tendenzen letztlich nie in Frage gestellt wird.

In Wahrheit ist John le Carré der eigentliche, im Hinterland operierende Doppelagent, der vorgibt, eine Maskerade zu entlarven, die eigene jedoch verschleiert. Sehr früh schon wies er selber auf die Analogie zwischen Autor und Spion hin, dessen Hauptgeschäft im Täuschen und Tarnen besteht. Dies gilt im Grunde für jede Literatur, die ihre Diskurshaftigkeit nicht explizit macht und eine bestimmte Weltsicht transportiert. Spionageliteratur ist hierfür jedoch im besonderen Maße geeignet.

Quellen:
John le Carré: A Delicate Truth, Penguin, London 2013.
Jens-Peter Becker: Der englische Spionageroman. Historische Entwicklung, Thematik, literarische Form. Goldmann, München 1973.
Eric Homberger: John Le Carré. Metheun, London 1986.


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