© Franz Krahberger
Die Frage danach, ob das Gehirn künstlich wäre, veranlasst mich weniger über die physikalisch chemische, neurologische Beschaffenheit des Gehirns, über seine Wahrnehmungs-,
Speicher- und Vernetzungsfunktionen, also über seine naturbedingte und naturwissenschaftlich beschreibbare Konstitution nachzudenken, sondern
verführt mich eher dazu, darüber nachzusinnen, wie ich wahrnehme, wie
ich mir Inhalte aneigne, wie ich selbst Inhalte bilde, beziehungsweise wie
ich Inhalte miteinander verknüpfe, welche Inhalte mich
interessieren, wie mir Inhalte in Erinnerung bleiben, wie ich von Inhalten
bestimmt werde usf.., also mehr Gewicht auf die kulturelle Konditionierung
zu legen.
Mir ist klar, dass ich damit dem objekt wissenschaftlichen Anspruch nicht
genüge und mich der eingeschlagene Weg zu einem eher subjektiven, also
durch meine Erfahrung und durch meine persönliche Verarbeitung dieser
Erfahrungen geprägtem Ergebnis führen wird, bzw. jenes subsummieren
wird, dass ich als für mich gültig und einsichtig über das Wesen des
Gehirns angenommen bzw. im Nachvollzug eines Modells als richtig
angesehen habe.
Ich gehe davon aus, dass mein Selbstverständnis, mein Bewusstsein und
mein Verständnis von Welt wesentlich durch die gesammelten und
vermittelten Inhalte, die gemachten Erfahrungen und die erlernten
Techniken bestimmt ist.
Die Entwicklung meines Gehirns, dass Träger dieses Bewusstseins ist,
kann ich also nicht loslösen von meinem bislang gelebten Leben, vom
Erlebten, vom Gesehenen, Gehörten, Wahrgenommenen, Erlerntem,
Gelesenem, intuitiv und instinktiv Aufgefassten, Verstandenen und von
Nichtverstandenem.
Es ist ebenso bestimmt durch erlernte und erarbeitete Kulturtechniken.
Das heisst jedoch nicht, dass mein Gehirn ein objektives Spiegelbild der
erlebten Welt, der unterschiedlichen Perspektiven wäre.
Nicht immer sind wir in der Lage, das Erlebte, das Wahrgenommene
insgesamt zu fassen und umfassend zu deuten. So manches entgeht uns,
weil wir uns dafür nicht interessieren. Das Interesse ist also wesentlich
an der Selektion des wahrgenommenen beteiligt.
Um unser Gehirn in einem geistigen, reflexionsfähigen Sinn in Betrieb
nehmen zu können, müssen wir uns Begriffs- und Zeichensysteme
erarbeiten. Wir müssen zu allererst die Sprache und die Schrift erwerben
und erlernen, um aufnehmen, verarbeiten und wiedergeben zu können,
und wir müssen sehen lernen. Diese Fertigkeiten befähigen uns jedoch
noch lange nicht zu freier Erkenntnis, aber sie bilden die Grundlage,
Information zu verarbeiten und zu bewahren.
Nicht übersehen werden darf jene Form der aussersprachlichen Kommunikation,
die uns etwa den Umgang mit Tieren möglich macht. Hier merken sich die
Partner, also Mensch und Tier bestimmte Formen der Interaktion, die bei
Wiederholung von beiden wiedererkannt werden. Dies lässt darauf schliessen,
dass ein Teil unseres Gehirns aus angeborenen, antrainierten, erworbenen und
beobachteten Handlungsmustern besteht, die jedoch nicht bloss automatische
Reflexe sind, sondern Spielraum zulassen.
Zeichen selbst sind jedoch nicht nur Bestandteil des menschlichen Repertoires.
Auch das Tier kennt Markierungen. Die Fährte des Tieres ist für den Menschen
ein Zeichen, dessen Kenntnis wesentlich zu seinem Jagd- und damit Evolutionserfolg beigetragen hat.
Ein bewusst gebrochener Zweig zur Wiedererkennung des zurückgelegten
Weges ist jedoch bereits ein Eingriff in die Natur, liegt jedoch noch fern von
deren Gestaltung.
Der Mensch beginnt sich die Natur anzueignen, aus ihr heraus zu treten, in
dem er Funktionen erkennt, in sie eingreift, sie gestaltet, sie umgestaltet und
in letzter Konsequenz zu Gunsten seiner Vorstellungen zurückdrängt und
vernichtet.
Der Mensch biegt sich die Natur nach seinen Wünschen zurecht und scheut
sich auch nicht, sie auszuschalten, wo sie ihm im Wege steht.
Voraussetzung dessen ist die Erkenntnis. Das unterscheidet jeodch noch
nicht das menschliche vom tierischen Gehirn, denn auch das Tier verfügt über Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeiten, wenn auch nicht so weit
entwickelt, wie dies beim Menschen der Fall ist. Insgesamt zeigen jüngere Forschungsergebnisse, dass die Übergänge und Differenzen zwischen
Mensch und Tier fliessender sind, als wir bislang abgenommen haben.
Eine Erkenntnis, die neue ethische Einsichten dem Tier gegenüber mit sich
bringt.
Der Mensch hat das Tier seinem Selbstverständnis nach das Tier (auch in sich)
durch die Entwicklung von Kulturtechniken, zu denen wir die frühen Waffen,
Faustkeil und desgleichen ebenso zählen müssen, überwunden.
Er beginnt Artefakte herzustellen, ersetzt das Rohe duch das Gekochte, schafft
sich ein seiner Natur entsprechendens Klima durch Hausbau und Kleidung.
Am Beginn des Menschen steht die Kunstfertigkeit, die Fähigkeit, Artefakte
herzustellen.
Die Intelligenz des Menschen ist von Anfang durch die Künstlichkeit
mitgeprägt, die sich aus der Fähigkeit, Funktionen zu erkennen herleitet und
durch die Fähigkeit der Gestaltung und nicht nur der Abbildung zu tatsächlicher
Wirkung gelangt. Es darf angenommen werden, dass die Fähigkeit zur Gestaltung
der Fähigkeit zur Abbildung vorausgeht.
Über die Unterscheidung von Natur und künstlichem ist sich der Mensch erst
in der Neuzeit und insbesondere in unserer Zeit klar geworden. Noch bis ins
ausgehende 19.Jahrhundert wurde die Kunst nach dem Vorbild der Natur
diskutiert.
Erst in unserem Jahrhundert ist die Loslösung der menschlichen Artefakte
aus der Natur, die deren Nachahmung in weiten Teilen überwunden
hat, weitgehend vollzogen. Nicht unerwähnt soll jedoch die tiefe existentielle
und materielle Krise sein, die diese Loslösung aus der Natur mit sich gebracht
hat und die absehbar auch die Gefahr der Vernichtung der menschlichen
Zivilisation und deren künstlichen Hervorbringungen nicht völlig ausschliesst.
Wir bewegen uns tatsächlich in einer Entwicklung, die dem Menschen
den von ihm geschaffenen Artefakten in seiner Funktionalität immer mehr
annähert und der uns bekannten Natur zunehmend entfremdet, ihn daraus,
wenn auch ökologisch abgefedert, entfernt und wir beginnen zu ahnen, dass
dies eine unumkehrbare Entfernung sein wird.
Deswegen fragen wir uns, ob unser Gehirn mehr dem künstlichen
als dem natürlichen zuneigt. Das Gehirn ist zwar ein Produkt der natürlichen
Evolution, muss sich in seiner Funktionalität nun jedoch überwiegend mit
den von ihm mitgeschaffenen Artefakten auseinandersetzen.
Stephen Hawking, bereits ein technoider Hybride, der ohne Technik nicht
mehr lebensfähig wäre, überlegt, ob nicht intelligentes Bewusstsein
auf einer technischen Basis die Evolution fortsetzt und auf die biologische
Basis Mensch eines Tages zu verzichten imstande ist.
Das nach der Natur sich richtende Denken hingegen, dass die so bezeichnete
natürliche Selektion mit einschloss, hat zu einem der schrecklichsten Systeme der
Menschheitsgeschichte geführt. Auch diese Erfahrung, selbst wenn es für die
Nachgeborenen bloss eine historisch überlieferte ist, bestimmt unser Handeln
und Denken. Wir wissen heute mehr denn je, zu welchen Grausamkeiten Menschen
fähig sind, und dies auch noch mit rationalen Begründungen rechtfertigen.
Das sogenannt natürliche Denken hat seines dazu beigetragen.
Wir müssen demnach davon ausgehen, dass die Natur des Menschen
auch solche Entwicklungen zulässt. Das es vor allem das Wesen des Menschen ist,
das solches zulässt. Die Natur dient da bloss als Vorwand und Rechtfertigung.
Ist jenes Gehirn, dass in der Bewertung einen höheren IQ erreicht als ein
anderes, ein besseres ? Ist derartige Wertung nicht auch eine Art biologischer
und genetischer Rassismus, der nach bestimmten Selektionskriterien
verläuft ? Wird sie ihren Höhepunkt in der künstlichen Intelligenz finden,
die die humane übertreffen und damit obsolet machen wird ?
Intelligenztests sind auf komplizierte Mustererkennungen aufgebaut.
Strukturen, Regelmässigkeiten müssen erkannt werden und je nach höherem
Schwierigkeitsgrad gibt es bei Lösung entsprechend hohe Bewertungen.
Sie bewerten jedoch nicht eine natürliche Intelligenz, sondern eben
eine, die auf tranierten, erlernten Fähigkeiten aufbaut, ebenso wie die
wahre Beherrschung des Schachspiels langjähriger Übung bedarf.
In dem einem wie dem anderen Fall beschäftigen wir uns mit künstlich
geschaffenen Strukturen. Ist die Beherrschung eines Regelwerks nicht
auch bereits eine Art künstlicher Intelligenz ? Es ist auf jeden Fall eine
kulturelle Intelligenz und eben keine natürliche und es ist vor allem eine
menschlich hervorgebrachte Intelligenz.
Auch das Erkenntniswerk über die Natur ist dem menschlichen Verstand
angepasst. Nur so kann der Mensch sein Wissen wiederum in Artefakte umsetzen,
die in Teilen Nachahmungen der Natur sind und doch wesentlich
an menschlichen Bedürfnissen orientiert sind. Das Künstliche ist
eine Erweiterung des Menschlichen und der Mensch damit in eine
Art selbstreferenziellen Wahrnehmungs-und Entwicklungskreis gebunden.
Andererseits hat das menschliche Gehirn die Fähigkeit, sich in Erkenntnis
dem Ausserbewussten anzupassen, in dem es forscht und erkennt
und Funktionalitäten abbildet.
Gerade das 19. und vor allem dieses Jahrhundert haben Ergebnisse
erbracht, die das menschliche Wissen radikal erweitert und verändert
haben. Ändert sich damit auch unser Gehirn ? Geändert hat sich im
jeden Fall das Bewusstsein. Das Bewusstsein, und damit das Gehirn
ist immer auch Teil dessen, das von ihm beobachtet, wahrgenommen
und fixiert wird. Wenn wir uns verlieben, wird der oder die andere
zu einem Teil unserer Identität. Desgleichen tritt auch auf, wenn
wir einem Vorbild, einer Autorität, einer Religion, einer Ideologie
folgen, die dann unsere Identität mitbestimmt.
So haben wir ein soziales, politisches, historisches, naturwissenschaft-
liches, kulturelles, erotisches, künstlerisches und u.v.a. künstliches Gehirn.
Dem allen versuchen wir objektive Inhalte zuzuordnen. Bis wir lernen,
ein Thema von verschiedenen Standpunkten her zu betrachten. Erst
ab da bemerken wir, dass unser Gehirn imstande ist, mit unterschiedlichen
Wahrheiten umzugehen, dass es flexibel ist, dass es imstande ist,
unterschiedliche Szenarien durchzuspielen, dass es imstande ist
Modelle zu bilden und künstliche Strukturen spielerisch zu entwickeln.
Dann sind da die subjektiven psychologischen Konditionierungen
unseres Gehirns, die uns vielleicht am nächsten sind, bestimmen sie doch,
wie wir unser Leben bewältigen, wie wir Erfolg haben und woran wir
scheitern. Mit ihm verbunden ist unser Wohlbefinden, oder unsere
Depression, je nach dem. Mit ihm verbunden ist unser Charakter, unsere
Wirkung auf andere. In ihm erleben wir unsere grössten Täuschungen
und Enttäuschungen ebenso wie unsere Freuden und unsere Triumphe.
Das ist wohl der privateste Teil neben dem Alltagsgedächtnis, in dem
wir unsere Empfindungen, Zuneigungungen und Abneigungen, Meinungen,
Lügen und Lebenslügen bewahren. Das ist auch der Bereich, der uns selbst
zum Teil verschlossen ist und der erst mühsam und gegen grosse
Widerstände erforscht werden muss, in Analyse und Gewissensbefragung.
Das Gehirn des Menschen neigt dazu, illusionäre Zustände, Einbildungen,
künstliche Wertvorstellungen zu erzeugen, an denen wir Wohlgefallen finden
und mit denen wir uns wohlfühlen. Das Gehirn verharrt gerne in einem
Zustand des Wohlbefindens, des illusionären Glücks. Wir könnten also
behaupten, dass unser Gehirn eine künstliche, wohltuende Weltvorstellung
und Selbstwahrnehmung herstellt, die nicht unbedingt mit der Realität
übereinstimmt.
Die Wahrnehmung des Wirklichen, der Grausamkeit der Welt und ihrer
unerbittlichen Rationalität scheint eher Sache des Melancholikers zu sein.
Anstelle des Glücks tritt der Weltschmerz, der das Leben im düsteren Licht
zeigt und mit bitterem Geschmack und realen Kopfschmerz verbunden
ist.
Die Vorspiegelung, die Illusion, der Traum hingegen erzeugt eine Art
Fata Morgana, einen illusionären Willen, der solange vorhält, bis wir die
reale Oase auch tatsächlich erreichen. Tatsächlich an ein Ziel gelangen,
dass nach realistischen Vorstellungen als unerreichbar galt.
Diese Wechselbilder der Psyche, diese Metamorphetik des menschlichen
Traums und seine Verwandlungs- und Einbildungskraft, die nicht
immer mit dem sich deckt, dass wir heute unter Bewusstsein verstehen,
mag ein künstlicher Vorgang sein, der aus der Natur des Menschen
erwächst.
Dieses Spektrum menschlicher Erfahrung, dessen Schilderung,
Abbildung und Bearbeitung war über jahrtausende hinweg Domäne der
Dichtung. Sie beschäftigte sich mit dem menschlichen Charakteren
und psychischen Imagos. Ich habe kürzlich eine Poetic aus dem
17. Jahrhundert durchgesehen, die das klassische Repertoire enthält.
Damals war die Dichtung noch an die Deklamation, an den
mündlichen Vortrag gebunden. Ich zählte etwa 100 Versfüsse und bei
ihrer Analyse wurde deutlich, dass sie Stimmungen und Charaktere
kennzeichneten, dass heisst das bestimmten menschlichen
Eigenschaften ein bestimmter Sprechrythmus zugeordnet war.
Das menschliche Sprechwerk war in ein künstliches binäres
Regelwerk, kurz-lang, betont-unbetont, das zu differenten
Kombinationen gefügt wird, eingebettet. Das ist übrings
eine binäre Darstellungsform komplexer Strukturen im europäischen
Kulturraum, die da war, bevor die Leibniz sein Zahlen-System
in zwei diskreten Zuständen entwickelte. Intelligenz stellt offensichtlich immer Ordnungsstrukturen her.
Die Dichter, die dramatischen und bildenden Künste, die
Musik verwandelten die Konstitution des Menschlichen in eine
künstliche Welt, in der sich die Menschen wiedererkennen und so
über ihr Leben reflektieren konnten.
So begreifen wir die kulturelle Welt als eine Art kollektiven Denkvorgang,
als eine Art kollektiven Gedächtnis, als einen künstlichen Spiegel, der
das Bild des Menschen und seiner Wege bewahrt.
Konkurrenz erwuchs der Kunst aus der Philosophie, die ebenso
in Anspruch nahm, das Wesen der Welt und das Wesen des Menschen
zu deuten.
Im 18. und 19.Jahrhundert begannen sich die Naturwissenschaften
in Folge der Aufklärung mit dem Menschen mittels eines rationalen
Instrumentariums zu beschäftigen, die empirischen, analytischen
Erkenntnisse und bahaviouristischen Ergebnisse unseres Jahrhunderts
verdrängen das traditionelle Kulturbild.
Die Vielfalt menschlicher Wahrnehmung wird zugunsten eines
empirischen in- output Modells, das selbst wiederum artifiziell ist,
ersetzt. Auch dieser kybernetische Wirkungskreis ist eine idealistische
Vorstellung , der einen Standard definiert, von dem aus sich Abweichungen
festlegen lassen.
Ich habe vorhin angemerkt, dass bis in die Neuzeit die Dichtung an
die Deklamation gebunden war, also an den Sprechlaut. Im 19.Jahrhunderts
beginnt die Verwandlung der Dichtung in eine Leseliteratur. Die visuelle
Komponente der Wissensaufnahme, die Lektüre, das Lesen wird zur
alles überlagernden Kulturtechnik. Der natürliche Vorgang des Hörens
wird durch den abstrahierten, künstlichen Vorgang des Lesens abgelöst.
Die visuellen Medien setzen diesen Trend fort. Die experimentelle Literatur
und Kunst hat diese Entwicklung beispielhaft begleitet. Konkrete Poesie
etwa arbeitet mit Textbildern, eine Tendenz , die sich gut auf die neuen
computer-gestützten Medien übertragen lässt und damit um die Bewegung in
einem zeitlichen Rahmen erweitert werden kann. Neue Präsentations-
modelle verändern unser Wahrnehmungsverhalten. Das ist der nächste
Eingriff des Künstlichen in unser Leben, der uns noch weiter von
der Natur entfernen wird. Besonders beliebt sind im ORF derzeit
die Sendungen über ursprüngliche Natur. Universum - der Blick in
die noch verbliebene Wildnis. Zwischen diesem Urbild und dem
Abbild liegt jeodch der ganze technische Apparat und jenes, das wir zu
sehen bekommen ist eigentlich Information. Ich sehe, wie ein Grizzley
läuft, ich sehe, wie er einen Lachs fängt, ich sehe, ich sehe, ich sehe,
aber ich war noch nie in der Nähe eines Grizzley. Das Abbild des
Grizzley ist virtuell, selbst wenn es von einer Kamera eingefangen
wurde.
Information ist virtuell. Diese Auffassung von Virtualitaet
zielt nicht nur auf die digitalen Räume, sie bezieht die mediale
Welt mit ein, die Kunst, die Dichtung und die Vorstellungen
der Religion. Was wäre denn virtueller als eine Himmelsdarstellung
oder eben die Gottesvorstellung ? Virtuelle Welten, Artefakte bilden
heute einen Grossteil unserer Lebens-und Wahrnehmungswelt und
sie bestimmen damit auch den Grad der Künstlichkeit unseres
Gehirns.
Anstelle der natürlichen, anstelle der kulturellen Kommunikation
tritt die Mensch-Maschinen Kommunikation. Der Monitor wird
zum zweiten Auge.
So heisst eine für 1999 in Wien geplante Konferenz über die
Zukunft der Informationstechnologie und über Strategien der
Wissengewinnung im nächsten Jahrtausend schlicht und einfach
> scope.
Das ist ein bemerkenswert gut gewählter Titel. In
Übersetzung bedeutet das Wort den Bereich, den geistigen
Gesichtskreis, die Reichweite, das Gebiet, den Spielraum und
auch freie Hand zu haben. Es bedeutet aber auch den Bildschirm
in der Radartechnologie. Die offizielle Präsentation des Vorhabens
hinterliess jedoch einen bedeutend weniger intelligenten Eindruck.
Mensch-Maschinen Kommunikation fordert den Menschen
nicht nur auf, sich in künstliche Strukturen, künstliche Welten
einzuüben. sie bietet ihm auch eine künstliche Verlängerung
seiner Organe, inbesondere des Auges. Teleoperationen sind
heute bereits fast alltäglich geworden, und so können wir auch
von einer künstlichen Verlängerung unserer Glieder, unserer
Extremitäten sprechen. Die Anpassung des Menschen an den
Artefakt, und damit an die Künstlichkeit, vollzieht sich also nicht
nur im geistigen, logischen Bereich, sondern auch in den
physikalischen Fähigkeiten.
Was liesse sich gegen die Feststellung, wir sind doch Menschen
mit Regungen und Gefühlen, mit Sinnesorganen, mit beweglichen
Gliedern, aus der Natur hervorgegangen, schon sagen, ausser dem
zuzustimmen. Doch so stellt sich die Frage nicht. Wir müssen
davon ausgehen, wieviel Fertigkeiten wir an Maschinen
übertragen haben, wie sehr wir Maschinen in Anspruch nehmen
und von ihnen in Anspruch genommen werden. Dazu sind auch
jene Geräte zu zählen, die unserer Unterhaltung dienen und die
einen grossen Teil unserer Freizeit in Anspruch nehmen.
Die Nutzung des Computers treibt diesen offensichtlich unaufhaltsamen Prozess noch weiter voran.
Die amerikanische Theoretikerin und Soziologin Donna Harraway
definiert den biologisch- künstlichen Hybriden, den Cyborg bereits
aus dem gegenwärtigenVerhältnis Mensch und Technik. Noch
radikaler verlängert Hawking diese Tendenz, indem er von der
Möglichkeit des Ersatzes der biologischen Evolution durch
technoide, vollends künstliche Träger spricht.
Derartige Entwicklung erzeugt in uns gemischte, ambivalente
Gefühle. Die einen sehen die Drift zwischen traditionellen
Kulturvorstellungen und technologischer Entwicklung,
orten ein Modernisierungstrauma, während die anderen mit
aller Macht der Ideen den technologischen Ausbau vorantreiben.
Was den einen noch utopisch, unmenschlich erscheint ist für
andere überholt, veraltet und obsolet geworden.
Die virtuellen Welten entsprechen zutiefst der menschlichen
Chimäre des Traums, jener morphetischen Täuschung, die uns
im Schlaf gefangen hält, die wir als Teil unseres Selbst empfinden,
die eine zutiefst küsntliche Welt ist, in der die Alltagsregeln,
das Alltagsbewusstsein, aber auch die Regeln der Physik
ausser Kraft gesetzt sind.
Woraus ziehen wir unsere Identität ? Ist es das, mit dem wir uns
beschäftigen ? Bestimmen die Monitore, die technische und
formale Intelligenz unser künftiges Leben ? Der Computer
gaukelt uns vor, dass er unser Denken, unser Gedächtnis
ablösen wird. Wir beginnen unser Gedächtnis auszulagern.
Er übernimmt die Kontrolle über unser Leben.
Wir bemühen uns, ihn zu verstehen. Lernen seine Befehls-
strukturen, lernen ihn richtig zu bedienen.
Die Fremdbestimmung nimmt zu. Wir passen uns einer
technischen, künstlichen Struktur an, wir fügen uns ein.
Wir treten ein in ein kybernetisch und technisch gesteuertes
Leben. Ist deswegen unser Gehirn künstlich geworden ?
Tatsächlich gibt es auch bereits so etwas wie künstliches Leben,
einmal abgesehen von den geclonten Schafen.
Der Biologe Richard Dawkins entwickelte mitte der achtzigerjahre,
mit der Absicht die Evolution zu simulieren, biomorphe
Programmstukturen, die zum Erstaunen seines Schöpfers
evolutionäre Eigendynamik entfalteten.
Künstliche Intelligenz ist etwas oder wird etwas sein, das ausserhalb
von uns existiert, dass vielleicht nicht einmal mehr des biologischen
Trägers bedarf. Ob dies nun die nächst höhere Stufe der Evolution
der Natur sein wird, wie dies Hawking annimmt, ist für den Menschen
ohne Bedeutung. Er wird dann aus dem Spiel sein.
So der Mensch bloss eine teleonomisches Projekt der Selbsterkenntnis
der Natur ist und durch eine andere, bessere und beständigere Form
ersetzt werden kann, wird dies auch geschehen.
Wien, 29.Oktober 1998