Im Winter 2006 schwärmte ein Kollektiv von Studenten der IUAV Universität in Venedig aus, um ihre Stadt unter der Anleitung des Philosophen Wolfgang Scheppe einer forensisch-strukturellen Kartierung zu unterziehen. Aus diesen Feldforschungen in der Tradition des Situationismus entwickelte sich ein urbanistisches Projekt, in dessen dreijährigem Verlauf ein gigantisches Archiv aus zehntausenden Fotos, Fallstudien, Bewegungsprofilen und statistischen Daten entstand.

Der Sehnsuchtsort Venedig - am Kreuzungspunkt dreier Korridore der Migration - erscheint darin als europäische Frontstadt und exemplarischer Prototyp für die Eskalation der globalisierten Stadt, in der eine dezimierte innerstädtische Bevölkerung mit dem Millionenheer des Tourismus und einer Parallelökonomie illegaler Immigranten zusammentrifft.

In einer raffiniert verzweigten Landkarte aus Essays, Bildargumentationen, Datenvisualisierungen und Interviews wird das globalisierte Territorium Venedigs mikroskopisch seziert und als urbanes Gleichnis erklärt: Die Stadt wird zum Atlas einer globalen Situation. Quelle Hatje Cantz On-Line

MIGROPOLIS / Atlas of a Global Situation


Wolfgang Scheppe, IUAV Class on Politics of Representation, Essays von Giorgio Agamben, Valeria Burgio, Wolfgang Scheppe

Englisch 2009. 1344 Seiten, 2.078 überwiegend farbige Abbildungen., davon 158 Diagrammdarstellungen .Gebunden, 2 Bände in Schuber
ISBN 978-3-7757-2485-2

Ausstellung: Fondazione Bevilacqua La Masa, Venedig , 8.10.-8.12.2009

After the exhibitions of Yoko Ono and Rebecca Horn, the Bevilacqua La Masa Foundation will show in San Marco's Square "Migropolis", an exhibition that is the final step of a large scale project concerned with the transversality of an urban territory subjected to the conditions of globalizationdeep; at Palazzetto Tito a group exhibition with the young artists from all over the world wich have partecipated the international workshop of Ratti Foundation.

Besprochen von Franz Krahberger

Wolfgang Scheppe und sein engagiertes Team schaffen mit diesen beiden Baenden ein neues ueberraschendes wie bestuerzendes Bild der traditionellen Kultstadt Venedig, die so als megaloman erfolgreiches Touristikunternehmen entlarvt wird. Alles an dieser Stadt ist historische Maske, die im globalen Masstab zu Markte getragen wird. Etwas ueber 60.000 Natives bewohnen den historischen Kern Venedig. Den muessen sie sich an den historischen Anziehungspunkten mit 20 Millionen Touristen im Jahr teilen. Dass dies fuer einheimischen Unmut sorgt, ist verstaendlich. Doch ueber diesen Unmut wird man hinwegsehen, solange das lukrative Geschaeft am Laufen ist.

Entschieden mehr fuer Groll sorgen die illegalen Migranten, die um sich zu ernaehren und im Lande halten zu koennen, an einer Schattenwirtschaft in der Grauzone beteiligt sind, die sich nicht an die offiziellen Regeln halten will und auch gar nicht kann.

Three forms of informal work can be distinguished. The first is closely connected to the official economy and represents a profitable of production to sweatshops, home labour and the blackmarket. Since illegal labourers must work without being permitted to do so, they are exploitable and cheap.

A second form ist the use of Eastern Europa women as housekeeper and caretakers for the elderly, a common practice in Northern Italy.

The third form, which is highly visible in Venice, is not related to any form of employment at all: It is the autopioetic, helpless and primitive copy of a self- established market on the streets.

Wolfgang Scheppe zeigt diesen illegalen Strassenhandel deutlich. Allein der Hintergrund bleibt verwischt. Das Foto Tautology Venice zeigt, wie ein Immigrant aus dem Senegal einem chinesischen Kaeufer eine Handtasche andreht. Selbstverstaendlich die Copy eines Markenproduktes > Made in China !

Das zeigt allerdings, dass dieser Grauzonenmarkt nicht voellig autopoietic, also selbsterschaffend und selbsterhaltend ist. Da stellt dem Scheppe die Sozialromantik der 68-er ein Bein. Wolfgang Scheppes Vorbild fuer das Projekt war Guy Debord, der Situationist. Er erwaehnt ihn gleich zu Beginn seines Prologes. Autopoiesis ist ein Schlüsselbegriff in der soziologischen Systemtheorie von Niklas Luhmann, die auf das venezianische Modell des Schleichhandels angewandt mir nicht voellig passend und plausibel erscheint. Meine Kritik soll jedoch den Wert dieser grossartigen und engagierten Arbeit von Scheppe & Team keineswegs mindern.

Tatsaechlich muss es uebergeordnete Verteiler geben, die die copierte Ware zum Verkauf bereitstellen. Einzelhandel mit der VR China ist schwer vorstellbar. Ich kann daran nichts Autonomes erkennen. Die illegalen Free Lancer duerften eben nur der sichtbare Teil einer Ausbeutungskette sein, deren Nutzniesser und Auftraggeber in dieser Studie voellig im Dunklen bleiben. Sie koennen genauso gut Italiener sein, die Handel mit China treiben und die Illegalitaet der Zuwanderer ausnutzen, den Lohn bis ans oder unter das Existenzminimum zu druecken. Das Feedback des Erloeses ueber die verkaufte Ware wird kontrolliert sein, mit den dazugehoerigen Drohgebaerden. Im Vuitton Propaganda War, auf den Scheppe eingeht, werden derartige Hintermaenner allerdings in Diskussion gebracht. Es duerfte um grosse Summen gehen. Bei 20 Millionen BesucherInnen im Jahr bleibt eine Menge Geld im Schwarzmarkt haengen.


Nutzniesser solcher Ware sind selbstverstaendlich auch die Kaeufer. Das ist Teil der Touristik Aberteuerromantik. Die wirklich Armen im Spiel sind die Einwanderer aus Afrika, aus Asien, aus Bangladesh, aus Moldavien, die so ihr Schattendasein ohne echte Chancen auf Besserung zu haben fristen muessen. Sie sind nicht in die Kriminalitaet abgesunken, sie wurden bereits durch das Spiel ausserhalb der offiziellen Regeln von Beginn an, nachdem sie erstmals venezianischen Boden betreten haben, in eine vorgeformte verdeckte Struktur am Rande der Kriminalisierung eingebunden. Diese Situation haben sie vorgefunden.

Ein Foto zeigt drastisch das Dilemma der Zuwanderer, der Aliens. Ein durchaus saubere Schlafstatt mit Matratze am Boden wird flankiert von zwei Postern. Der eine zeigt bloss eine Ziegelmauer und der zweite die Skyline von Manhattan. Der amerikanische Traum, ausgetraeumt in einem Armenquartier in Venedig. Kehren die Aliens in die Laender zurueck, aus denen sie gekommen sind, muessen sie mit empfindlichen Haftstrassen und Repressionen rechnen. Zur Ueberfahrt nach Amerika, in das gegenwaertige Land der Depression, wird es nie reichen. Sie sind irreversibel in die existenzielle Falle geraten.

Als herausragende Gegner des Schleichhandels erwies sich nicht die oertliche Obrigkeit oder die wirtschaftlichen Dachverbaende; zumindest nicht in der oeffentlichen Wahrnehmung. Es waren die Gondolieres, die gegen Immigranten und deren Schleichhandel mobil machten.
Mehr als hundert Gondeln sperrten Ende Mai 2002 den Canale Grande. Die Gondoliere erklaerten, um die venezianische Identitaet besorgt zu sein. Heimische Identitaet ist bei allen rechtspopulistischen Parteien ein beliebtes Argument, Fremdenfeindlichkeit voran zu treiben.

Dem Protest der Gondoliere folgte 2005 der Propaganda Krieg gegen die falsche und fuer die echte Louis Vuitton Ware. Good, dafuer teure Bags anstelle von bad und billigen Imitat Bags. Das kaufende Publikum der Stadt wird ueber die Tricks der Faelscher und ihrer Verteiler informiert. Ich glaube nicht, dass das etwas gebracht hat.

Tatsaechlich hat das Markengeschaeft Venedig ebenso im Griff. Auf grossflaechigen Transparenten, Billboards, angebracht an den Fassaden von Palaesten am Canale Grande, auf dem Marcusplatz selbst, wird nicht mit politischen Slogans sondern fuer Markenprodukte im High Style Format geworben. Der Touristenstrom legitimiert sogar die Abdeckung von historischen Fassaden, obwohl gerade wegen denen nach Venedig gereist wird. Auch das zaehlt bereits zum globalen Stil. Werbung in den urbanen Staedten ist unuebersehbar geworden. Daran kommt man nicht mehr vorbei. Am besten, man fotografiert sie mit, um den Stil der Zeit zu wahren.

Der Touristenstrom ergiesst sich auf vier Wegen nach Venedig. Einmal ueber die Autobahnverbindungen, mittels der Eisenbahn und Flugzeug und ueber den Hafen, den die monumentalen Ozean Passagier Liner, die die Dachlinien der Stadt ueberragen, anlaufen. Zur Weltreise auf dem Traumschiff gehoert ein Besuch der Traumstadt Venedig.


Die Aliens, vor allem jene Fluechtlinge, die mit alten Schrottkaehnen, desolaten Schlauchbooten das Mittelmeer uebersetzen, um nach Italien zu gelangen, riskieren dabei ihr Leben. Schiffe, die nicht seetuechtig sind, gehen immer wieder mit Frau, Mann und Maus unter. Solches Schicksal kennen wir bereits von den vietnamesischen Boatpeoples, die das Land verlassen haben, nachdem der Vietkong die Macht uebernommen hat. Kommunismus, Armut und Not entbehren jeglicher Anziehungskraft. Ihr Schicksal und ihr Tod bleibt anonym. Niemand kuemmert sich um unbekannte Fluechtlinge.

Die Anziehungskraft des wirtschaftlich potenten Nordens ist so gross, dass dafuer der Kopf aufs Spiel gesetzt wird. Wie gross muss da die Armut des Suedens sein.

Jene, die nicht im desolaten Schiff scheitern, muessen mit FRONTEX, dem European Border Regime, Europaeische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen, rechnen, die auch eine Art europaeische Kuestenwache beinhaltet, die vor allem im Mittelmeer zum Einsatz kommt. Mit brutalen wie fatalen Mitteln werden Aufgebrachte zum Stop bzw. zur Umkehr gebracht. Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass im Jahre 2006 durch den europaeischen Sicherheitswahn 6000 Personen auf ihren Fluchtwegen und Routen ums Leben gekommen sind.

Der Westen mauert sich ab. Die USA im Sueden gegen Mexiko, in Europa mittels des Schengenverbandes und der Frontex. Israel hat gesamtheitlich eine Mauer um sich gezogen. Europa ist bloss die Teilfestung eines groesseren Ganzen im Nordatlantischen Pakt. Seit der Zerstoerung der Twin Towers in New York kontrollieren die USA die Anreisenden besonders streng.








Besonders bemerkenswert an der Arbeit des Teams von Wolfgang Scheppe ist die Erweiterung des Kontextes ueber die Ikonen des Tourismus Prospektes und der klassischen Venedig Darstellung in unzaehligen Fotobaenden hinaus, wie sie noch unendlich in der Commissario Guido Brunetti TV Serie nach Donna Leons Krimis, weiter verwalzt wird, die Einbindung der industriellen Vororte Mestre und Marghera, die dem traditionellen Venedig Bild eine weitere und ueberraschende Perspektive im Kontrast verleihen. Marghera ist der Standort von Fincantieri, eine der groessten Schiffswerften und Traumschiff Hersteller Italiens und der Welt. Allerdings, das klassische Venedig Bild wird seinen Glanz nicht verlieren, solange die Stadt noch steht. Selbst der Verfall kann das anhaltende Interesse nicht bremsen. Im Gegenteil, es wird dadurch noch verstaerkt. Morbiditaet erscheint attraktiv.

Fincantieri , heir to the great tradition of Italian shipbuilding, is today one of the largest groups in the world in the design and construction of merchant and naval vessels.
The company's core business is the construction of complex ships with high technological content such as cruise ships and large ferries.
Moreover, it is the reference builder in the naval field providing a wide range of ship types including surface vessels (frigates, corvettes, patrol vessels etc.) and submarines. Fincantieri sets out to be a partner to ship owners and to the defence sector with innovative, tailor-made products backed by a high service level.
The company's wide ranging engineering expertise and capacity to build prototypes enable it to take up new opportunities on the market by developing tailor-made products.

Es ist anzunehmen, dass die Ausstellung und der inhaltliche Umfang der zwei Baende 1:1 geraten ist. Doch das eigentliche Produkt sind diese beiden Print Baende. Dazu will ich Wolfgang Scheppe und seinem Team gratulieren. Es sind weder Bildbaende im gewohnten Herstellungs- und Gestaltungssinn noch im Sinne einer linearen Text- und Bildfolge. Sie vereinen Theorie, Textsequenzen, Bild, Grafik und Statistik, anschauliche Realitaet in eindrucksvoller Weise.
Die Form erinnert an den Hypertext, ist es aber dennoch nicht. Hier zeigt sich sogar, dass diese Gestaltungs- und flanierende Erzaehlform dem Hypertext noch ueberlegen ist. Einen Nachteil hat der Hypertext, man kann ihn nicht derartig in Fuelle ueberfliegen und sichten, wie diese hier vorgelegte Form. Die Merkfaehigkeit beim Blaettern ist entschieden besser als im Klick und Scroll Verfahren. Ein Nachteil: die Schriftgroesse ist etwas klein geraten. Da habe ich ohne Brille keine Chance.

Migropolis- Atlas of a Global Situation.

Universita IUAV Venezia
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sueddeutsche On-line 03.08.2009, 16:59 Sicherheit in Venedig
Soldaten und die Polizei sollen die illegalen Straßenhändler rund um den Markusplatz in Venedig vertreiben. In der Lagunenstadt ist man davon nicht begeistert. Bereits in dieser Woche soll die Aktion starten. Mit einer solchen bisher einmaligen "Task Force" wollten das Verteidigungsministerium und die Provinz Venedig gegen die etwa 400 in der Regel ausländischen Straßenhändler vorgehen. Das berichtete die römische La Repubblica.
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Die neue Präsidentin der Provinz Venedig, Francesca Zaccariotto von der ausländerfeindlichen Lega Nord, will ihre Polizisten ausserdem auch Venedigs Strände während der Urlaubszeit sichern lassen. "Wir haben unsere Anstrengungen gegen den Straßenhandel schon verdoppelt", wehrt sich der linke Bürgermeister Massimo Cacciari gegen den Vorwurf, nicht genug zu tun. Und wenn Militär eingesetzt werde, müsse dieses dem städtischen Ausschuss für öffentliche Ordnung unterstellt werden.

Zwei Wochen, nach dem ich meine Kritik verfasst habe, finde ich folgende mail in meiner Mailbox:

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Siehe auch > China > eine ernuechternde Betrachtung 2008



Thomas Steinfeld in der Sueddeutschen Zeitung Das wahre Gesicht von Venedig

Wirtschaftsgeschichte Venedig auf wikipedia

San Marco Life Cam

Hatje Cantz Oktober 2009

Eigenwerbung: Ich moechte auf ein Projekt von mir hinweisen. Auf den nur im Internet zugaenglichen urbanen Hypertext, gebunden in der Struktur an die Wiener U-Bahnlinie U4, anhand deren Verlauf sich ein staedtischer Querschnitt mit aktuellen und historischen Bezuegen entfalten laesst; Virtuelle Stadtbaustelle in Progress, Start Fruehjahr 2007 Run U4 Stadtbilder Bogen.

Medienbaustein


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